OFF-KINO
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

Einen seiner ungewöhnlichsten Filme drehte Alfred Hitchcock 1944 mit „Lifeboat“: die Geschichte weniger Überlebender eines im Zweiten Weltkrieg von einem deutschen U-Boot torpedierten Schiffes, die in ihrem Rettungsboot auch noch den Kapitän des ebenfalls gesunkenen U-Boots aufnehmen. Für Hitchcock bestand die technische Herausforderung darin, in nur einem einzigen Dekors im Studio drehen zu können – und natürlich darin, seinen obligatorischen Cameo-Auftritt in dieser beschränkten Kulisse irgendwie hinzubekommen. Inhaltlich ist „Lifeboat“ ein Propagandafilm, der in der Zusammensetzung der Passagiere eine Art Mikrokosmos entwirft, der die verschiedensten Ansichten der Leute in westlichen Demokratien widerspiegelt. Da gibt es einen Arbeiter mit kommunistischen Ideen, einen Industriellen mit den gerade entgegengesetzten Ansichten sowie Leute mit christlichen oder humanistischen Wertvorstellungen. Entsprechend den demokratischen Spielregeln sind sie uneins, sie streiten und sind mit der Notsituation, in die sie geraten sind, ziemlich überfordert. Nicht so der deutsche Nazikapitän (Walter Slezak): Er weiß, was er will und wo es langgeht, und übernimmt nach und nach die Kontrolle im Boot. Willi ist intelligenter, gebildeter, zielstrebiger und physisch stärker als alle anderen – aber natürlich ist er auch herzlos und muss deshalb unterliegen. Den Sieg der Demokratie zeigt Hitchcock übrigens keineswegs als Triumph, sondern als eher schmutzige, aber notwendige Angelegenheit: Die Überlebenden rotten sich zusammen, um den Nazi zu lynchen.

Mit „Kiss Me Deadly“ drehte Robert Aldrich 1955 einen späten Film noir, in dem die Welt noch viel verworrener und düsterer wirkt als in den Noir-Klassikern der Vierzigerjahre. Detektiv Mike Hammer (Ralph Meeker) ist hier nur noch ein entfernter Verwandter von einem Private Eye wie etwa Philip Marlowe, der trotz zynischer Fassade seine Fälle stets mit humanistischer Gesinnung löste. Hammer hingegen wirkt völlig egozentrisch, und den Fall, den er bearbeitet, versteht er sowieso nicht. Auch sonst ist er nicht der Hellste: Kunstsammlungen, Lyrikbände und Opernschallplatten, mit denen er es im Verlauf der Story zu tun bekommt, überfordern ihn aufs Heftigste. Die literarische Vorlage von Mickey Spillane hat Aldrich komplett ins Absurde getrieben: Irgendwie geht es in der Geschichte nun um einen Koffer mit einem Atomball, hinter dem alle möglichen Leute her sind. Im Grunde ist der Film bereits eine Reflexion des Detektivgenres. Wohl auch deshalb mochten ihn die Kritiker der Cahiers du Cinéma seinerzeit so gern.

Eine alte Frau besucht ihren Enkel in einem russischen Militärcamp in Tschetschenien. Alexander Sokurows „Alexandra“ (2007) erzählt in verwaschenen Farben und mit sorgfältig durchkomponierter Tonkulisse von einem gegenseitigen genauen Beobachten: Während Alexandra sehr konzentriert die Atmosphäre einer Routine registriert, die bloß noch aus Waffen und Langeweile besteht, erkennen die Soldaten in ihr die Botschafterin aus einer Normalität, die sie nicht mehr kennen. LARS PENNING

„Lifeboat“ (OF), 11. 3. im Arsenal 1

„Kiss Me Deadly“ (OF), 10. 3. im Arsenal 2

„Alexandra“ (OmU). 5.–11. 3. im Kino Krokodil