Ein letztes Mal Kind

Die Suche nach der verlorenen Zeit: Ralf Rothmanns neuer Ruhrgebietsroman „Junges Licht“

VON JÖRG MAGENAU

Damals gab es nördlich von Oberhausen noch ungepflasterte, staubige Straßen, Weizenfelder, die in der Sonne glühten, und Fördertürme am Horizont. Die Männer fuhren mit dem Fahrrad auf Feldwegen zur Schicht unter Tage, und in einer Bretterbude in der Nachbarschaft wohnte ein Obdachloser. Das ist die Kindheitslandschaft von Ralf Rothmann, die er beharrlich, Buch um Buch, in eine literarische Landschaft verwandelt. Je tiefer das Ruhrgebiet, so wie es einmal war, in der Geschichte verschwindet, umso entschlossener fördert er Erinnerungen an die versunkene Zeit ans Licht.

„Junges Licht“ ist – nach „Stier“, „Wäldernacht“ und „Milch und Kohle“ – sein vierter Roman über eine Ruhrgebietskindheit in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren. Mit wechselndem Personal erzählt Rothmann in seinen Büchern stets dieselbe Geschichte: seine eigene. In immer neuen Varianten schreibt er an der eigenen Biografie entlang. Allerdings geht er in umgekehrter Richtung vor und stößt allmählich in frühere Kindheitsregionen vor. War „Stier“ die Geschichte eines Neunzehnjährigen, der wegwill, so ist Julian Collien, der Ich-Erzähler in „Junges Licht“, erst zwölf Jahre alt und versteht vieles von dem, was um ihn herum passiert, noch nicht.

Julian lebt mit seiner kleinen, fröhlichen Schwester Sophie und den Eltern im ersten Stock eines engen Bergarbeiterhäuschens. Wie alle Helden Rothmanns ist er eher ein Danebensteher, der die Dinge beobachtet und versucht, sich wegzuducken, so gut es geht. Die Jungens in der Nachbarschaft und im „Tierclub“, wo sie ein paar Karnickel, einen Vogel und einen räudigen Hund halten, sind alle ein bisschen älter und stärker. Sie ärgern und quälen ihn, wenn sie sich langweilen. Langeweile aber haben sie immer in diesem langen Sommer. Die Mutter ist Kettenraucherin und verprügelt ihren Sohn so heftig, dass der Kochlöffel dabei zerbricht. Julian ist ein schweigsamer Held des Ertragens. Er erduldet die allgegenwärtige Gewalt, ohne darauf gewalttätig zu reagieren. Im Erdgeschoss wohnt der Hausbesitzer Gorny mit seiner Familie. Dessen Stieftochter Marusha hat das Zimmer nebenan mit einem Fenster zum Balkon, durch das sie ihre Beine streckt. Wenn sie ihre Fußnägel lackiert, stellt sie die Füße auf den Tisch der Colliens. Am liebsten macht sie das, wenn Julian allein zu Hause ist. Julian hat noch nie ein Mädchen geküsst und findet die Vorstellung eher eklig. Aber er genießt es, wenn Marusha ihm mit den Fingerspitzen über den Handrücken streicht.

In allen Poren des Körpers und in allen Winkeln des Hauses vibriert eine kaum begriffene Sexualität. Herr Gorny stellt ihm mit lüsternen Blicken nach, und es ist nur die jugendliche Ahnungslosigkeit, die ihn vor dessen Geilheit schützt. Wenn der Vermieter vor dem Jungen onaniert, glaubt Julian, er suche etwas in seinen Hosentaschen. Doch er ist geistesgegenwärtig genug, die Zimmertür zu verriegeln, als Gorny eines Nachts die Treppe heraufkommt. Julian ist meistens allein. Der Vater, dem er zärtlich anhängt, hat Nachtschicht. Als er ihn jedoch aus dem Zimmer Marushas klettern sieht, verwirrt Julian das. Die Mutter und die Schwester kehren wenig später von den Ferien an der Nordsee zurück. Für einen Urlaub für die ganze Familie hätte das Geld nicht gereicht. Die Colliens müssen infolge der Ereignisse zum Monatsende ausziehen. Julian, der nichts versteht und doch alles erspürt, fühlt sich schuldig an dieser Entwicklung.

Rothmann schreibt scheinbar mühelos aus dem Innern der Vorstellungswelt des Kindes. Im Unterschied zu den früheren Ruhrgebietsromanen verzichtet er auf einen erwachsenen Ich-Erzähler, der an den Ort der Kindheit zurückkehrt. Dort waren das Schriftsteller oder ein Maler, Künstler also, die aus großer Entfernung ihren proletarischen, familiären Ausgangspunkt besichtigten. Die Loslösung und die Schwierigkeit des Erinnerns wurden dabei zum Thema. „Junges Licht“ ist dagegen bruchlos aus der einstigen Gegenwart heraus erzählt. Es gibt keine Rückkehr, weil der Aufbruch noch nicht stattgefunden hat. Das Künstlerthema ist nur angedeutet: Julian malt außergewöhnlich gut, und es ist erkennbar, dass er aus seiner Umwelt herausfallen wird.

Rothmann weicht geschickt der Gefahr aus, bedrückende Verhältnisse, Armut und Abhängigkeit mit schmerzlich-schönem Seufzen genießbar zu machen. Das gelingt ihm vor allem durch die Kunst der Andeutung, wie die Erzählperspektive sie gebietet, und durch ein filmisches Schreiben, das einzelne Szenen mit Gespür für den richtigen Schnitt aneinander montiert. Rothmann ist von modischer Popliteratur, die aus Mangel an interessanten Erzählstoffen mittelmäßige Kindheiten inventarisiert, gleich weit entfernt wie von einer Literatur der Arbeitswelt, die ja zusammen mit dem Ruhrgebiet untergegangen ist.

Aber er baut in seine Erzählung ein Museum der Arbeitswelt ein. In kurzen, eingeschobenen Abschnitten schildert er die Arbeit unter Tage mit Worten, die bald niemand mehr kennen wird: Schrägführung, Brandschiefer, Wetterschacht, Gezähekiste, Arschleder, Vortrieb, Hydraulikstempel. Wenn die kohleschwarzen Tunnel, um die Explosionsgefahr zu dämmen, mit Kalk oder mit Salz geweißt werden, dann ist das ein magischer Moment der Schönheit. Die tektonischen Spannungen, die sich im Familienleben entladen, deuten sich hier mit feinen Rissen und Brüchen im Gestein an, die schließlich auch unter Tage zu einer Katastrophe führen. Auch hier gibt es zudem vergängliche Spuren einer früheren Geschichte, die sich nur in Poesie bewahren lassen. Da erscheint in der Kohleschicht für einen winzigen Moment der schwarz glänzende Abdruck eines urzeitlichen Vogelskeletts. Der Schreck, den der Arbeiter da bekommt, gleiche dem, „der einen durchfährt, wenn man mit den Fingerspitzen über die Rückseite eines Briefes streicht und dabei noch die Hand, ihren Druck, eines längst Verstorbenen fühlt“.

Es sind solche poetisch dichten Momente, die für Licht in der Düsternis der Tage sorgen. Das gipfelt schließlich in dem Satz, den ein alter Penner zu Julian sagt und der wie eine Erkennungsformel auf dem Buchumschlag steht: „Wenn du dich einmal für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts mehr passieren. Nie.“ Man darf vermuten, dass Julian diese Entscheidung bald treffen wird. Denn seine Kindheit geht mit diesem Sommer zu Ende.

Ralf Rothmann: „Junges Licht“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004, 238 Seiten, 19,80 Euro