Vorlesen im Altenheim

Für 1,50 Euro sollen angeblich sinnvolle Tätigkeiten erledigt werden. Damit ist Clement endgültig bei der Seelsorge angekommen

Gemeinnützige Arbeit für Niedriglohn gab es bisher nur für Sozialhilfeempfänger

VON BARBARA DRIBBUSCH

Wie wandlungsfähig ist doch die politische Rhetorik: Vor Jahren kürzte die rot-grüne Regierung bei den ABM-Stellen, weil diese nun mal keine „Brücke“ in den ersten Arbeitsmarkt darstellten. Doch nun werden Beschäftigungsmaßnahmen im großen Stil wieder aufgelegt, nur billiger. Es gehe dabei „nicht um ABM“, bemüht sich Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) zu erklären, sondern um eine „Brücke“ in den ersten Arbeitsmarkt. „Brücke.“ Aha.

600.000 neue Billigjobs sollen im Zuge der Hartz-IV-Reform entstehen, sagte Clement. Bereits 50.000 dieser Stellen will die Bundesagentur für Arbeit ab Oktober zu einem Lohn von höchstens 1,50 Euro die Stunde einrichten. „Die Latte wird einfach nur niedriger gehängt“, sagt Hans Lohe, Geschäftsführer des Berliner Beschäftigungsträgers A&Qua, der sich wie viele andere Träger um die Betreuung der Langzeitarbeitslosen beworben hat.

Als so genannte Mehraufwandsentschädigung bekommen die Erwerblosen 1,50 Euro die Stunde, das klingt nach Hungerlohn. Aber wenn man bedenkt, dass die Arbeitslosen dieses Geld zusätzlich zum Arbeitslosengeld II behalten dürfen, ergibt sich eine andere Rechnung. Zählt man etwa die Unterkunftskosten von 350 Euro, dazu den Regelsatz des Arbeitslosengeldes II von im Westen 345 Euro und dann (bei einer 30-Stunden-Woche à 1,50 Euro pro Stunde) rund 200 Euro „Mehraufwandsentschädigung“ zusammen, ergibt sich ein Gesamteinkommen von 895 Euro netto. Die Sozialversicherungsbeiträge übernimmt dabei nach wie vor die Arbeitsagentur. Diese Einkommen werden in manchen niedrig qualifizierten Jobs in der privaten Dienstleistung nicht erreicht, nörgelte denn auch das Institut für Wirtschaftsforschung und verlangte flugs eine Entlohnung von nur 50 Cent die Stunde.

Der neue zweite Arbeitsmarkt ist eine billigere Variante der früheren, teureren ABM-Stellen. Es ergeben sich aber genau die gleichen Probleme wie bei den hunderttausenden von ABM, die in den neuen Bundesländern in der Nachwendezeit entstanden. CDU-Politiker, Gewerkschafter und Handwerksvertreter warnen bereits davor, dass die neuen Billigjobs massenhaft Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt gefährden können. Schließlich haben die ABM im Osten in den 90er-Jahren beispielsweise den dortigen privaten Landschafts- und Gartenbau kaputtgemacht.

Um dem Vorwurf der Konkurrenz zu entgehen, präzisierte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums daher gestern die Zahlen: 30.000 dieser Billigjobs könnten zum Ersatz unbesetzter Zivildienststellen geschaffen werden, 30.000 als ErzieherInnen, 100.000 als Tagesmütter und 70.000 im gewerblichen und technischen Bereich.

Einige Wohlfahrtsverbände haben bereits Interesse an den Billigjobbern bekundet. „Viele der Tätigkeiten werden wir im Pflegebereich einrichten, als zusätzliche Hilfstätigkeiten“, sagt Jürgen Fergg, Sprecher des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Die Billigjobber sollen mit den Pflegebedürftigen „spielen, vorlesen, mit ihnen spazieren gehen, mit ihnen sprechen“.

Soziale Arbeit, besonders die Altenpflege als Lösung für die Beschäftigungsfrage – auch diese Idee ist jedoch nicht neu. Die grüne Bezirkssozialstadträtin Martina Schmiedhofer aus Berlin-Wilmersdorf sieht das kritisch: „Man kann Erwerbslose nicht mal eben so in die Altenarbeit schicken. Die Arbeit an alten Menschen, gerade auch an bedürftigen Menschen, ist anspruchsvoll.“ Und ein langzeitarbeitsloser Maurer in den 50ern eignet sich vielleicht nicht unbedingt dazu, stundenlang mit einer Seniorin plaudernd durch den Park des Pflegeheims zu ziehen oder am Krankenbett Böll-Romane vorzulesen.

Schmiedhofer hat in ihrem Bezirk bereits viele Projekte für gemeinnützige Arbeit mit angeschoben. Die Leute ackern als Küchenhilfe in Kitas, kellnern in einem gemeinnützigen Restaurant, helfen den Hausmeistern in Schulen, ordnen irgendwo Akten ein oder führen in der Verwaltung Statistiken. „Das werden wir im Zuge der Hartz-Reform jetzt ausbauen“, sagt Schmiedhofer.

Tätigkeiten im sozialen oder kulturellen Bereich „müssen keine Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt sein“, glaubt auch Lohe von A&Qua. Das Problem ist nur: Je weniger Konkurrenz zur Privatwirtschaft diese Billigjobs darstellen, desto marktferner sind solche gemeinnützigen Tätigkeiten eben auch – und können damit auch nicht für die Langzeitarbeitslosen als Brücke dienen zum so genannten ersten Arbeitsmarkt.

6,35 Milliarden Euro hat Clement für die Förderung von Langzeitarbeitslosen in den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit eingestellt. Aus diesem Topf werden auch die neuen Billigjobs finanziert, die jeweils nur eine Dauer zwischen sechs und neun Monaten haben.

„Es geht nicht um ABM, sondern um eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt“

Damit wird der zweite Arbeitsmarkt entscheidend umstrukturiert: Gemeinnützige Arbeit für diesen Niedriglohn gab es bisher nur für Sozialhilfeempfänger. Die klassischen ABM-Stellen für Arbeitslose hingegen waren in den 80er-Jahren sogar mal tariflich bezahlt, dann sackte das Niveau auf 80 Prozent des Tarifs und noch weiter ab, heute gibt es bei den ABM nur noch verschiedene Entgeltgruppen.

Auch viele junge Arbeitslose unter 25 Jahren sollen den neuen Billigjobs zugewiesen werden, sagte Clement. Inwieweit Arbeitslose in diese Jobs dann tatsächlich gezwungen werden, inwieweit sie wählen können, hängt vom jeweiligen Betreuer im Jobcenter vor Ort ab.

Eine längerfristige Perspektive für die Langzeitarbeitslosen bieten die Billigjobs jedoch nicht: „Letztlich geht es vor allem darum, dass die Erwerbslosen einfach wieder eine Berührung mit der Arbeitswelt, einen strukturierten Tag haben“, meint Lohe.

Mit dem neuen Programm räumt der Arbeitsminister indirekt ein, dass in den nächsten Jahren weiterhin Massenarbeitslosigkeit in Deutschland herrschen wird und daher ein zweiter Arbeitsmarkt unumgänglich ist. Die Art der Beschäftigung macht aber klar, worum es nur noch geht: temporäre Befriedungsmaßnahme für die Masse der Arbeitslosen. Das ist der aktuelle Stand der Arbeitsmarktpolitik.