„Man muss die Welt verändern“

KARL RICHTER

„Am meisten beeindruckt hat mich Willy Brandt. Aus einem einfachen Grund: Er war vielen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Ich bin deshalb damals sehr für ihn eingetreten, als er aus dem schwedischen Exil zurückkam“

Man kann in die „Chronik des 20. Jahrhunderts“ und in die SPD-Parteihistorie schauen. Man kann sich aber auch mit Karl Richter treffen. Denn alles, was in den vergangenen 100 Jahren passiert ist, hat er selbst erlebt. Die ersten 14 Lebensjahre im Kaiserreich, dann Weimarer Republik, Nazizeit. Als die Bundesrepublik geboren wurde, war er schon 45. Und 84 seiner 100 Jahre hat er in der SPD verbracht. Den Sozialstaat und die Arbeitnehmerrechte, die jetzt bröckeln, hat er mit wachsen sehen. Und teils mitverhandelt: Genauso lang wie in der SPD ist Richter in der Gewerkschaft. Zwölf Jahre lang war er Landeschef der Industriegewerkschaft Druck und Papier

INTERVIEW STEFAN ALBERTI

taz: Herr Richter, Sie waren 14, als Philipp Scheidemann die Republik ausrief. War das der Moment, der Sie zur SPD brachte?

Karl Richter: Ja. Wir waren damals eigentlich eine undogmatische Gruppe von Jungen und Mädchen und sind dann zur Gewerkschaft und zur Partei gekommen.

Was hieß es für Sie, Sozialdemokrat zu werden?

Für mich war das die Entscheidung, den Weg des demokratischen Sozialismus zu gehen und nicht den der Kommunisten, mit Diktatur des Proletariats und Anschluss an Russland. Mich daran zu beteiligen, hatte ich keinerlei Neigung.

Für welche Werte stand für Sie demokratischer Sozialismus?

Kurz gesagt: auf dem Grundsatz der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der parlamentarischen Gesetzgebung zu versuchen, die Verhältnisse in Deutschland auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu verbessern.

Die Zukunft der SPD wird geprägt durch die Agenda 2010. Viele sagen, dass dieses Projekt solche Werte wie Gerechtigkeit nicht verkörpert.

Die Welt ist in ständigem Wandel begriffen. Meine Auffassung ist: Man muss sie so nehmen, wie sie ist, man darf sie bloß nicht so lassen. Das ist mein Grundsatz, und in dieser Richtung hat sich auch meine gewerkschaftliche Arbeit bewegt.

Haben Sie nie an der SPD als Ihrer Partei gezweifelt? Haben Sie nie daran gedacht, auszutreten?

Nein. Es kommt doch auf die große Linie an, das kann man von einzelnen Dingen nicht abhängig machen. Auseinandersetzungen mit der Partei bleiben dabei natürlich nicht aus. Zur Agenda 2010 hab ich stets gesagt, dass ich es für einen Irrtum halte, stur zu sagen, dass man daran nun gar nichts mehr verändern darf.

Was hätten Sie denn anders gemacht?

Ich als Gewerkschafter betrachte das Ganze wie Tarifverhandlungen. Man setzt sich Wochen und Monate zusammen, um zu einem neuen Abschluss zu kommen. Und genau wie dabei kann es auch in der großen Politik passieren, dass einiges, was in gutem Glauben beschlossen wurde, doch so verschiedene Macken hat.

Macken? Welche?

In der Frage der Arbeitslosenunterstützung hätte die Partei anders reagieren müssen statt zu sagen: So und nicht anders. Dadurch kam es zu einer Auseinandersetzung, die nach meiner Auffassung nicht zu sein brauchte. Man hätte den ganzen Sturm, die Austritte und die Diskussion in der Partei verhindern können, wenn man etwas offener an die Sache herangegangen wäre und die Agenda 2010 nicht wie eine heilige Bibel behandelt hätte. Das scheint ja jetzt Eingang gefunden zu haben. Denn alle Debatten bewegen sich ja jetzt dahin, dass man bereit ist, Dinge zu ändern.

Trotzdem gibt es eine große Zahl von SPD-Mitgliedern, die mit der Partei brechen und darauf hoffen, dass sich links von der SPD eine andere Partei, eine neue Linkspartei, bildet. Haben Sie dafür Verständnis?

Den Unmut kann ich verstehen. Aber die Gründung einer neuen Partei nicht. Die schwächt nur insgesamt die Arbeiterbewegung. Dann gibt es noch eine Splittergruppe mehr, und davon profitieren nur die Bürgerlichen. Denn wenn es neben der PDS noch eine Partei gibt, wird ja die Sache nicht einfacher. Die können wohl Mandate gewinnen, aber die haben doch keinen Einfluss auf die große Politik.

Die Kommunisten waren für Sie, weder als KPD noch später als PDS, nie eine Alternative …

Allerdings nicht.

Was haben Sie 2002 gedacht, als Ihre Partei mit der PDS eine Koalition eingegangen ist?

Es gibt einfach Situationen, in denen man, um Politik machen zu können, mit anderen Gruppen, deren Auffassungen nicht ganz weit von der eigenen entfernt sind, gemeinsame Sache machen muss. Es muss auch Kompromisse geben.

Sie halten ja nicht viel von einer zusätzlichen Linkspartei. Aber eine erfolgreiche Neugründung hat es ja gegeben. 1979 – da waren Sie 75 – sind die Grünen gestartet beziehungsweise in Berlin die Alternative Liste. Wie haben Sie deren Entwicklung erlebt?

Die Grünen sind eine Partei, die natürlich wie alle anderen auch in ständigem Wandel begriffen ist. Das ist ja bei der CDU nicht anders. Die war früher eine ganz konservative Partei und ist auch mehr zur Mitte gerückt. Über die Grünen konnte man anfangs immer sagen: Im Winde flattert das Haar …

Klar, auf alten Fotos fallen die Parteimitglieder ohne Bart und lange Haare auf, heute ist das umgekehrt.

Wir sahen ja in den 20er-Jahren auch so aus mit langen Haaren und Sandalen. Aber mit der Zeit sind die Grünen bürgerlicher geworden, als sie gemerkt haben, dass sie so einen größeren Teil der Bevölkerung für sich gewinnen können.

Ab jenen 20er-Jahren mussten Sie auch den Aufstieg einer anderen Partei ertragen. Wie haben Sie als Sozialdemokrat den Nationalsozialismus überlebt?

Ich wurde nach 1933 fristlos gekündigt, bin dann aber zurückgeholt worden nach einem Einspruch bei der Betriebsleitung. Die haben dann gegenüber den Nazis durchgesetzt, dass ich weiter beschäftigt werden konnte. 1939 wurde ich eingezogen. Als unsicherer Kantonist kam ich zum Baubataillon und habe Straßen-, Brücken- und Eisenbahnbau gemacht.

Und danach?

Da war ich bei fast allen Alliierten in Gefangenschaft, zuerst bei den Amerikanern. Als die in Frankreich ihr Lager auflösten, kam ich in französische Gefangenschaft. Und als die Franzosen ihre Lager aufgelöst haben, da hatten die Russen in Brandenburg einen Platz für mich parat.

Fehlten ja nur noch die Briten. Nachfolgend haben Sie so Bedrückendes wie die Blockade Berlins und den Mauerbau erlebt. Haben Sie sich nie so eingeschnürt gefühlt, dass Sie aus Berlin wegwollten?

Nein, denn ich hatte ja stets Verbindungen ins Bundesgebiet, über die Partei und die Gewerkschaft.

Gucken wir mal nach vorne. Viele Menschen haben derzeit richtig Zukunftsangst. Der Begriff fällt so oft, dass ihn sogar das englischsprachige Time- Magazin auf Deutsch zitiert.

Es ist schon so, dass eine große Unsicherheit in der Bevölkerung besteht. Die Angst um den Arbeitsplatz ist so groß, dass die Leute sehr zurückhaltend sind mit Ausgaben und mit ihrem Geld sparsam umgehen.

Wenn Sie mit 100 Jahren bilanzieren, was Sie mit der SPD und der IG Druck und Papier erstritten haben und was heute wieder wegfällt – da kann Ihr Fazit doch nur negativ sein.

In gewisser Weise muss ich feststellen, als Gewerkschafter und als Parteigenosse, dass wir all das, was wir erreicht haben, aufgrund der ausländischen Konkurrenz nicht halten können. Und dass wir gezwungen sind, ständig darum zu kämpfen, dass noch so viel wie möglich davon bestehen bleibt.

Das muss doch frustrierend sein nach 84 Jahren Parteimitgliedschaft.

Wir haben ja als Sozialdemokraten auch gute Arbeit geleistet – von Anfang an. Nach dem Zusammenbruch 1918, nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs, da waren es doch die Sozialdemokraten, die die Regierung übernommen haben – obwohl sie gar keine Leute mit Erfahrung in der Verwaltung hatten. Leider ist es nicht gelungen, in den Jahren der Weimarer Republik auch aus den anderen richtige Demokraten zu machen.

Reichspräsident war damals Ihr Parteigenosse Friedrich Ebert. Haben Sie den selbst mal gesehen?

Ja sicher.

Bei welcher Gelegenheit?

Bei großen Kundgebungen.

Sie haben ja auch die ganzen anderen großen SPD-Politiker erlebt, von Schumacher über Reuter, Brandt und Schmidt hin zu Schröder. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Willy Brandt!

Warum?

„Den Unmut gegen die Agenda 2010 kann ich verstehen. Aber die Gründung einer neuen Partei nicht. Das schwächt die Arbeiterbewegung. Ich selbst habe nie an Parteiaustritt gedacht. Es kommt doch auf die große Linie an“

Reichen Sie mir doch mal das Bild da aus dem Regal rüber. Da bin ich mit Brandt zusammen drauf. Ich hab ihn doch in die Gewerkschaft aufgenommen …

Franz Müntefering meinte bei Ihrer Geburtstagsfeier, das bleibe für immer und ewig Ihr Verdienst. Wieso waren Sie denn von Brandt so beeindruckt? Der wurde ja Kanzler, als Sie 1969 in Rente gingen.

Aus einem einfachen Grund: Brandt war vielen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Ich bin deshalb damals so sehr für ihn eingetreten, als er aus dem schwedischen Exil zurück nach Deutschland kam. Denn da wurde er gar nicht von allen gemocht: Die Kommunisten haben in ihm einen Arbeiterverräter gesehen, die Rechten einen Vaterlandsverräter. Ich habe mich dann mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm gesagt: Ich werde dich in deiner Politik mit den Gewerkschaften unterstützen. Zur IG Druck und Papier passte er, weil wir doch die Journalistenunion bei uns hatten, und er war ja Journalist gewesen …

er hatte ja auch als Korrespondent am Nürnberger Kriegsverbrecherprozess teilgenommen.

Ich hab hier auch noch das Schreiben von 1955, in dem Brandt mir antwortet und beitritt.

Der Absender ist ja nicht gerade eine Arbeiteradresse: Marinesteig, am Schlachtensee. Aber das schließt ja auch heute nicht von hohen Parteiämtern aus – der SPD-Generalsekretär Benneter hat ja auch seinen Wahlkreis in Steglitz-Zehlendorf. Wenn Sie von Brandt so beeindruckt waren, wer hat Sie denn am meisten enttäuscht?

Hmm, Wehner wird ja nun unterscheidlich beurteilt, aber mit Schmidt und Brandt zusammen hat er doch immer versucht, einen Weg zu finden, der doch Anklang bei der Bevölkerung gefunden hat. Das ist ja heute das Schwierige, dass heute das Vertrauen in die Politik fehlt – damals war es vorhanden.

Wie schneidet denn im Verhältnis zu diesen großen Namen der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit ab?

Wir sind direkt freundschaftlich miteinander verbunden.

Und wie macht der seine Arbeit?

Er bemüht sich – es ist halt eine schwierige Zeit, in der ständig neue Dinge zu regeln sind.

Beim Festakt zu Ihrem 100. saßen Müntefering und Ver.di-Chef Frank Bsirske Schulter an Schulter neben Ihnen. Das passiert ja derzeit selten. Glauben Sie, dass SPD und Gewerkschaften nochmal so nah zusammenkommen, wie die beiden da nebeneinander gehockt haben?

Die müssen zusammenkommen. Nur so lässt sich die große Unsicherheit beseitigen und wieder Vertrauen gewinnen. Man kann ja unterschiedlicher Meinung sein. Aber der Gegner ist doch nicht in jedem Fall der Feind.

Heißt das zugespitzt: Wieder zusammenkommen oder getrennt den Bach runtergehen?

Ja.