Mein Posi

Sprüche, die von Herzen kommen: Was das alte Poesiealbum über die eigene Biografie verrät

VON JOCHEN SCHMIDT

Immer kommt es mir in die Finger, und ich weiß dann nicht, wohin damit, und lege es wieder zurück. Wohin nur damit? Mit meinem Posi? Alle hatten eins, und ich bekam meins von meiner Patentante, die nicht nur im Westen wohnte, sondern sogar in Glückstadt. Es hatte einen gelben Plasteumschlag, auf dem in goldener Schrift stand: „Poesie“. Ich war so stolz, dass ich gleich einen meiner wertvollsten Aufkleber dafür bestimmte, eine Kuh mit Kullern in den Augen. Vorn schrieb ich das obligatorische „Wer in dieses Büchlein schreibt, den bitte ich um Sauberkeit, und reiß mir keine Seiten raus, sonst ist es mit der Freundschaft aus“. Säuberlich korrigierte ich „Sauberkeit“ und „Freundschaft“, beides hatte ich im ersten Anlauf kleingeschrieben. Hinten kam meine Adresse rein und natürlich ein mit Buntfilzern gemalter Baumstamm, dessen Gesicht sagte: „Hier hinten bin ich angewurzelt, damit niemand aus dem Album purzelt.“

Jetzt konnte es losgehen, aber gleich kam der politisch schwierigste Teil, die Festlegung der Hierarchie. Auf jede Seite musste mit Bleistift notiert werden, für wen sie reserviert war, und wehe, wenn Tino Lehmann sauer war, dass er hinter Markus Werner kam. Und Sabine Seidel, die konnte eigentlich ganz nach hinten, aber das war auch wieder fies, vor allem, wo ihr Vater Stasi-Oberst war. Als Erstes kommt ein schöner Spruch von Patentante Anni Huber: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Von Antoine de Saint-Exupéry, dem Platzhirsch der Posipoesie. Manche schrieben nur ihren Spruch und dekorierten nicht die gegenüberliegende Seite. Das übernahm ich dann. Wie bei Tante Jutta. Ich klebte ein Herz aufs Papier und malte bunte Kringel drumherum. Je mehr Kringel es wurden, umso döfer sah es aus. Es war ein Wettlauf mit der Angst, mein Posi für immer versaut zu haben.

Meine Mutter schreibt mir: „Lieber Jochen, bleibe weiterhin so fröhlich, hilfsbereit und pflichtbewusst.“ Wenn das nicht ironisch gemeint ist, muss ich meine ganze Biografie umschreiben. Meine Schwester widerspricht ihr zum Glück, sie trägt gleich eine ganze Sammlung anspielungsschwangerer Volksweisheiten ein: „Mancher meint, in ander Leut Garten sey auch gut grasen.“ Nach den Verwandten kommen die Klassenkameraden. Zuerst Anja Lieberam: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“ Strom schreibt sie allerdings mit „h“, dafür aber Goethe ohne.

Wenn Lehrer etwas eingetragen hatten, setzte immer ein allgemeines Gelächter ein, weil man auf diesem Weg zum ersten Mal ihren Vornamen erfuhr. „Was? Die Rettich heißt Doris?“ „Ej, kiek mal, und der Schwerner heißt Rudi!“ Rudi Schwerner war berühmt für seine Unterschrift: „Schweiner“, was seinem Ruf bei uns auch entsprach. Viele Klassenkameraden hatten für alle den gleichen Spruch, so auch die schöne Irina, unsere Vertreterin im Freundschaftsrat. Bei ihr war es noch dazu ein Russenzitat, der Gipfel an Uncoolness. Glaubt man ihr, dann hatte ein gewisser Fjodor Gladkow gesagt: „Ein Mensch wird nicht nach seinem Alter, sondern nach seinen Taten geschätzt.“ Auf Jeannette Stahlhut war ich richtig sauer. Die hat mir eine riesige Fratze reingemalt, noch dazu nicht mal mit Filzern, sondern mit Ost-Buntstiften. Und das Gesicht sollte mich darstellen. „Blaue Augen, roter Mund, Jochen Schmidt, du bleibst gesund“, steht da im Hintergrund. Allerdings schrieb sie „Joch Schmidt“. Ein Debakel. „Die hat dir dein Posi versaut“, hieß es von allen Seiten. Ich schämte mich im Stillen.

„Oft gleichen wir der Brennessel: berührt uns ein andrer nur zart, verursachen wir brennendes Weh“, schreibt die Cousine prophetisch. Dann folgen Weisheiten, die angeblich von Seneca und Scholem Alejchem stammen, die notorischen indianischen Sprichwörter: „Dass man in die Kirche geht, macht aus einem so wenig einen Christen, wie man ein Auto wird, wenn man in die Garage fährt“, und die rätselhaftesten Versmaße: „So, wie die Täubchen leben, in Fried und Einigkeit, so wünsch ich dir fürs Leben voll Glück und Zufriedenheit.“ Und natürlich die ganze Palette von Posiklassikern, umgeknickte Ecken, die Briefumschläge darstellen, drauf steht: „Bitte nicht öffnen“, drin steht: „Hast ja doch geöffnet“.

Die Seiten von unsern Sportlehrern Herrn Wurster und Frau Duft, genannt Frau Mief und Herr Fleischer, sind noch leer. Sie waren so fern und entrückt, unsere Sportlehrer. Man rannte manchmal allein auf sie zu, und dann war man auch schon wieder einer von vielen. Herr Wurster war so muskulös, dass immer, wenn er vor uns in den Liegestütz fiel, das Armband seiner digitalen Quarzuhr aufsprang. Ein Running-Gag, den er nie ausließ. Wir vermuteten Absicht dahinter. „Mit Messern und Pistolen, soll dich der Teufel holen, wenn du vergisst, wer Simone ist.“ Tatsache, Sabine Seidel steht wirklich ganz hinten. Nein, wie soll ich dich vergessen, du hast ja dein Passbild eingeklebt, und auch das Meerschweinchen auf deiner Schulter werde ich immer in Erinnerung behalten. Es war ein Langzeitüberlebender und machte, um Kräfte zu sparen, nur noch ein bisschen den Mund auf und zu.

Am besten gefällt mir aber der Spruch von Onkel Detlef, der ein Russentrauma hat und deshalb nicht den Sozisender ARD guckt: „Die über Nacht sich umgestellt und sich zu jedem Staat bekennen, das sind die Praktiker der Welt, man könnte sie auch Lumpen nennen.“ Meine Eltern interpretierten das als Spitze gegen sie, weil sie sich keinen Heißluftballon basteln wollten, um zu ihm nach Heilbronn zu fliegen, ich hab es nicht so böse aufgefasst, schließlich hatte er noch eine kleines Männeken mit Hut hingemalt und Onkel Dieter drangeschrieben. Ich klaute mir den Spruch für Kathrin Müllers Posi. Meine Mutter bekam einen Schock, weil Kathrins Vater Polizist war. Ich musste alles wieder rauskillern, niemand konnte mir erklären, warum.