Matto, pazzo, mentale disturbato

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Berlusconi? Niemand redet über ihn. Außer wenn man selbst auf ihn zu sprechen kommt Den anmaßenden, bösartigen, korrupten Zwerg an der Spitze Italiens muss man eben aushalten

„Berlusconi zerkrümelt sich selbst.“ Francesco Merlo im Corriere della Sera, 5. 9. 2003

Es ist, allen Gerüchten zum Trotz, noch immer ein schönes Land. Jeder weiß, dass es stiefelförmig gestaltet ist, und schon zur Römerzeit gab es bittere Erfahrungen mit Herrschern, denen dieser Stiefel einfach eine Nummer zu groß war. Nun also Berlusconi. Italien, das ja einiges erlitten und durchgedrehte Kaiser wie Nero und Caracalla, den Diktator Mussolini und nach dem Krieg ungefähr fünfzig Regierungen überlebt hat, scheint an der Grenze des Zumutbaren angelangt zu sein. Seit zwei Jahren bewegt man sich als Reisender misstrauisch durchs Land, wie ein Liebender, der verzweifelt im Gesicht der Geliebten nach Veränderungen forscht, nach bösen Anzeichen, die er ahnt, befürchtet, mit seinen Blicken nachgerade hervorlocken will und trotzdem nicht entdecken kann.

Ferragosto, der innere Kriegszustand in Italien: Alle machen Ferien, alle Straßen sind verstopft, alle Strände verschwinden unter Menschenleibern, und alle Apotheken und Autowerkstätten sind gerade dann geschlossen, wenn man sie braucht – dieser Ferragosto ist vorüber. Ein beseligender Frieden, wie ihn Ovid schon besungen hat, senkt sich über die Hügel Liguriens, nistet in den verschachtelten, an die Bergkämme unter den blauen Himmel geschmiegten Dörfern, schleicht im Mittagslicht über die Piazza und nimmt auf den leeren Stühlen der Cafeterias Platz.

Sogar den Autoreisenden überkommt das Gefühl, in Arkadien angekommen zu sein, wären da nicht die Kurven, die von den Italienern geliebt werden, weil sie eine Gelegenheit haben, um so entschlossener die Gegenfahrbahn zu benutzen, je unübersichtlicher die Straßenführung ist. Doch selbst die Via Aurelia, angeblich die schönste Küstenstraße der Welt, auf der sich im August eine Blechlawine Stoßstange an Stoßstange an irgendein Ziel wälzt, ist wieder befahrbar. Und ecco: Sie ist wirklich und wahrhaftig, allen Gerüchten zum Trotz, noch immer die schönste Küstenstraße der Welt.

Berlusconi? Niemand spricht über ihn. Das verwundert uns, und so lassen wir hier und da, im Gespräch in der Paneteria oder im Eisenwarenladen, wie beiläufig seinen Namen fallen. Berlusconi? Nie gehört. Im August gab es einen kleinen Skandal, als der Cavaliere unseren Bundeskanzler in der Arena von Verona versetzt hat – aus Angst, ihn, den Cavaliere, werde ein Pfeifkonzert überschütten. Ich zeige dem Wirt unserer Osteria die Karikatur im Corriere della Sera. Der Mann blickt unbestimmt in die Ferne: Berlusconi? „Un pretendente“, ein Angeber. „Maschere!“ – alles Masken, keine Menschen, erklärt uns die steinalte und hellwache Dame im Haushaltswarengeschäft, streng marxistisch. Im Zeitungsladen geht meine Frau zu direkter Agitation über: keine Zeitung von Berlusconi! Gelächter im Laden – ob zustimmend oder ironisch, ist schwer zu deuten. Aber fortan erhalten wir, ganz selbstverständlich, nur noch den Corriere oder La Repubblica.

Wer in diesem verflixten Land, so fragen wir uns, hat eigentlich Berlusconi gewählt? Offenbar will es niemand gewesen sein. In Florenz soll jetzt Michelangelos David-Statue gereinigt werden; dem ging ein Wissenschaftlerstreit um die richtige Methode voraus, als stehe die Reinigung der Nation auf dem Spiel. Aber die Nation scheint intakt. Zurzeit hat man dummerweise diesen anmaßenden, bösartigen, korrupten und furchtbar geschmacklosen Zwerg an der Spitze, aber man hält ihn irgendwie aus.

Die Resistenza ist entsprechend lahm – und der „Ulivo“, das Mitte-links-Bündnis, nahezu unsichtbar. In den Karikaturen des Corriere erscheint Berlusconi regelmäßig als kleiner Napoleon – aber Napoleon war nun einmal kleinwüchsig und hat trotzdem die halbe Welt in Brand gesteckt. Das ist vom Cavaliere nicht zu befürchten, aber es genügt ja, dass er sein schönes Land ruininiert.

Überhaupt der Corriere – die Mailänder Zeitung, inzwischen 125 Jahre alt, ist ein eigenes Kapitel Italien. Als Berlusconi Anfang September in einem Interview mit britischen Journalisten die Richter seines Landes beschimpfte – „matto“, verrückt, „pazzo“, wahnsinnig, und „mentale disturbato“, geistig gestört hat er sie genannt –, war die Stunde des Leitartiklers Francesco Merlo gekommen. Die Häufung von Verbalinjurien, die sich der Regierungschef geleistet hatte (und die er einen Tag später in seiner bekannten Art wieder zurücknahm: nicht alle Richter seien „matto“), war dem Journalisten ein willkommener Anlass, sein Geschütz für eine Gegen-Schimpfkanonade in Stellung zu bringen und es mit den blumigsten Beleidigungen zu füttern, die in der an barocken Invektiven weiß Gott nicht armen italienischen Sprache zu finden sind. Daraus wurde ein bizarrer Text – wütend und verschroben, metaphern- und anspielungsreich, voller sprachlicher Schnörkel und gedanklicher Eskapaden. Eine Polemik? Gewiss, aber in einer Sprache, die mit jeder Silbe verrät, dass sie eigentlich auf die Opernbühne gehört und in der kunstreichen Tirade ihre höchste Form erreicht.

Wer von einem Leitartikel intellektuelle Logik, klare Beweisführung, gar politische Analysen erwartet, unterfordert die italienische Sprache, die einfach mehr hergibt als das übliche Futter, das der Verstand des normalen Zeitungslesers braucht, um sich einen Reim auf die verrückte Welt zu machen. Alle wissen, dass Berlusconi ein mieser Emporkömmling ist, aber Francesco Merlo macht ein hochmanieristisches Bild daraus: Er trage „die Stiefel und die Glatze eines Parvenüs der Politik“; gewiss sei er „keine Hyäne, sondern ein Fantast“, freilich einer, dem „wie einem Clown die Schminke auf dem Gesicht zerrinnt“. Berlusconis Wahnbild von den verrückt gewordenen Richtern tauge nicht einmal für die Blödeleien im Fernsehen. Merlo ist auf die Person fixiert wie ein Theaterregisseur auf seinen Hauptdarsteller oder ein Bildhauer auf sein Modell: Wenn Berlusconi so fortfahre und das Schulsystem und die italienische Wirtschaft verkommen lasse, werde er zu einer Mitleid erregenden Figur, schlimmer noch: zu einem Monument der „Selbstvernichtung“. Er sei ein Mann, der sich selbst verzehrt, nein: sich auffrisst, sich „zerkrümelt“, „zerbröckelt“, „zerbröselt“, wenn man das schöne Wort „sbriciolare“ überhaupt ins Deutsche übersetzen kann.

Der Sprachmagier als Leitartikler, der mal aus der Zirkuswelt, mal aus der Mythologie, mal aus der Religionsgeschichte seine Bilder holt, um sein publizistisches Objekt so zurechtzustutzen, bis von ihm tatsächlich nur ein Häufchen Elend übrig bleibt – das ist nicht ganz unverfänglich. Schließlich ist auch die Pietà, Sinnbild des Mitleids, eine italienische Nationalfigur. Im letzten Satz plündert Merlo sogar das Bilderarchiv des Kinos, wenn ihm, auf der Suche nach einem nicht mehr zu überbietenden Vergleich, Robert De Niro einfällt: Berlusconi habe nicht unsere Empörung verdient, sondern unser Mitgefühl – wie jener Boxer wider Willen („pugile per forza“), der nach seinem Kampf elend in der Toilette verblutet.

Unheimliche Vorstellung: Die Italiener könnten 2005 Berlusconi aus reinem Mitleid wiederwählen.