Zwei Wochen kratzen – und ab!

33-Jähriger nach spektakulärem Ausbruch wegen „Gefangenenmeuterei“ verurteilt

Was wäre der Prozess vor der 8. Strafkammer in Augsburg ohne den Ausbruch vor einem Dreivierteljahr gewesen? Ein Verfahren unter vielen, nicht mehr. So aber wurde die Geschichte jener Silvesternacht 2003 wieder aufgerollt, genüsslich rekapituliert vom Vorsitzenden Richter. Jene Geschichte, die immer und immer wieder erzählt wird, wenn heute in irgendeinem der 36 bayerischen Gefängnisse jemand von Ausbruch spricht.

Zwei Wochen lang, so Richter Wolfgang Rothermel am Dienstag beim Strafprozess gegen den Ausbrecher, hätten dieser und seine beiden Mithäftlinge mit einem Rohr ihres Bettgestells im Schichtdienst hinter dem Heizkörper gekratzt und gekratzt. Bis sie schließlich, völlig unbemerkt, ein 40 mal 50 Zentimeter großes Loch in die dicke Zellenaußenwand des alten Kaisheimer Klosters gekratzt hatten. Niemand kann sich bis heute erklären, warum in dieser Haftanstalt, in der überwiegend „schwere Jungs“ einsitzen, keiner etwas von dem Dauerkratzen gehört hat. Die herausgekratzten Stein- und Mörtelbrocken haben die Häftlinge zerkleinert und in der Toilette weggespült. Die Ziegelsteine wurden dann wieder lose in das Loch in der Wand zurückgelegt.

Es kam die Silvesternacht. Eine halbe Stunde vor Mitternacht ging es los: Die drei U-Häftlinge knoteten aus ihren Bettlaken eine fünf Meter lange „Abstiegshilfe“. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten: Beim Zusammenknoten hätten sie sich besser genauso viel Mühe gegeben wie beim Loch-in-die-Wand-Kratzen.

Das Loch in der Zelle im 2. Stock wurde flugs freigelegt, dann begann der Ausstieg. Zwei der Männer hatten Glück, beim Dritten riss das Bettlaken. Er fiel zu Boden, verletzte sich am Knöchel. Die beiden anderen rannten, er humpelte zum Zaun, dann zur Gefängnismauer. Trotzdem schafften es alle drei über die Mauer. Die Sirene heulte, der verletzte Ausbrecher wurde auf der Straße von herbeigeeilten JVA-Mitarbeitern eingefangen.

Einen vierten Zellengefährten hatten die Ausbrecher hinter dem Loch in der Mauer zurückgelassen. Er wollte nicht mit türmen. Dafür aber musste er seine private Anschrift nennen und versichern, nur ja nichts zu verpfeifen. Ihm wurde gedroht, man würde ihn erschießen, wenn er nicht dichthält.

Die krimireife Flucht für die zwei zunächst entkommenen Häftlinge endete auch für sie recht schnell – weit weniger spektakulär als der Ausbruch selbst. Völlig durchnässt wurde der Rädelsführer zwei Tage später gefasst. Vor Kälte bibbernd war er in einer Neuburger Garage aufgefallen. Seinem Komplizen wiederum wurde der Verfolgungsdruck zwei Wochen nach seiner Flucht zu stark, und er stellte sich selbst.

Richter Rothermel verurteilte den Haupttäter lediglich zu einem Jahr auf Bewährung wegen Gefangenenmeuterei und Bedrohung des zurückgebliebenen Mithäftlings. Der Verurteilte hat nach Überzeugung der Kammer dafür gesorgt, dass sich „Gefangene zusammengerottet und Gewalt angewendet haben“. Letzteres richtete sich allerdings nur gegen Sachen, nicht gegen Personen. Doch die Gewalt gegen die Gefängnismauer reichte aus für den Meuterei-Tatbestand. Der Ausbruch an sich ist ebenso wenig strafbar wie das Lügen als Angeklagter. Die beiden Mit-Flüchtlinge sind in anderer Sache zu einer höheren Strafe verurteilt worden, deshalb wurde ihr Verfahren eingestellt.

Dass der 33-Jährige trotz einer gegen ihn verhängten hohen Haftstrafe wegen versuchten Mordes an einem Münchener Rentner so glimpflich davonkam, liegt daran, dass das Münchener Urteil beim Bundesgerichtshof zur Revision liegt. Und ein nicht rechtskräftiges Urteil darf dem Angeklagten nicht angelastet werden. Sollte allerdings der andere Richterspruch Rechtskraft erlangen, dann wird die einjährige Strafe des Augsburger Landgerichts addiert.

KLAUS WITTMANN