Die Befreiung als Massenspektakel

Paris feiert den 60. Jahrestag seiner Befreiung vom Nationalsozialismus in der Mode und mit der Musik der 40er-Jahre. Politische Themen und Kontroversen werden ausgeblendet. Gäste aus dem Ausland sind dieses Mal nicht mit dabei

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Haltet durch! Wir kommen!“, steht in der Botschaft von General Leclerc. Eine tief über den Dächern fliegende „Piper“ wirft sie über der Polizeipräfektur ab. Unten sammeln Résistants den Text auf. Die Widerstandskämpfer haben die deutschen Besatzer aus dem Gebäude auf der Île de la Cité vertrieben. Danach sind ihre Munitionsvorräte erschöpft. Gegen die deutschen Panzer, die von außen gegen das Tor rammen, müssen sie mit benzingefüllten Flaschen kämpfen. Erst tags drauf trifft die lang erwartete militärische Unterstützung von außen ein. An der Spitze der alliierten Truppen marschiert die von dem Franzosen Leclerc kommandierte „2. DB“ ins Herz von Paris. Gefolgt von US-Amerikanern. Die französische Hauptstadt – seit zwei Wochen im Generalstreik, seit einer Woche im Volksaufstand und seit drei Tagen gespickt mit Barrikaden aus Pflastersteinen – ist befreit. Die „Libération“.

60 Jahre danach erfahren manche Helden von damals späte Ehrungen. Vorgestern wurde eine Avenue im 14. Pariser Arrondissement nach dem Chef des militärischen Widerstands in der Stadt benannt. Henri Rol-Tanguy, Metallarbeiter, einstiger Spanienkämpfer und bis zu seinem Tode im Jahr 2002 Kommunist, kommandierte den Aufstand in den letzten Tagen vor der „Libération“ aus einer Katakombe unter dem im 14. Arrondissement gelegenen Platz Denfert heraus. Der ebenfalls verstorbene Vorsitzende des Pariser Befreiungskomitees, der Arbeiter, Kommunist und CGT-Gewerkschafter André Tollet hat posthum nun einen eigenen Platz im Arrondissement.

Doch im Zentrum stehen nicht mehr die politischen und militärischen Ereignisse jener Jahre, sondern ihre „Alltagskultur“. Die sollte in Szene gesetzt werden. So der der Auftrag des sozialdemokratischen Pariser Bürgermeisters, Betrand Delanoë, an den auf Massenspektakel spezialisierten Regisseur Jérôme Savary. Das Ergebnis sind zwei Umzüge. Frauen in gepunkteten Glockenröcken und weißen Söckchen und Männer mit Pomade im Haar und Hosenträgern werden heute auf den beiden Routen der alliierten Truppen am 25. August 1944 zu Jitterbug- und anderen Moderhythmen in Richtung Rathaus tänzeln. Dazu werden sie Fähnchen schwenken: französische, US-amerikanische und ein paar sowjetische. Später am Abend zeigt Savary seine Version der Befreiung. Zweisprachiger Titel „Liberté – Liberty“. Zu dem anschließenden Volksball soll sich das Publikum in die Mode der 40er-Jahre hüllen. Staatspräsident Jacques Chirac und der Pariser Bürgermeister werden die Zeremonie am Rathaus präsidieren. Noch lebende Résistants sind ihre Ehrengäste.

Manche davon haben gezögert, bevor sie die Einladung zu dem entpolitisierten Spektakel annahmen. Schon die Litfaßsäulen mit Bildern und zeitgenössischen Flugblättern von der „Libération“, die in den vergangenen Wochen in Paris aufgetaucht sind, haben sie irritiert. Darin ist vieles ausgeblendet, was den Rückblick auf die eigene Geschichte stört. Die – dominante – Rolle der Kommunisten im Pariser Widerstand. Der Machtkampf zwischen Gaullisten und Kommunisten in den letzten Kriegsmonaten. Die beide französischen Seiten verbindende Furcht vor einem US-amerikanischen Besatzungsregime in Frankreich. Sowie der daraus resultierende ebenfalls gemeinsame Wunsch, Paris selbst zu befreien – noch vor der Ankunft der USA.

Die offizielle Sicht der „Libération“ beschränkt sich auf den 1944 aus London zurückgekehrten Charles de Gaulle. Viel zitiert ist ein Satz, den er bei seinem Antrittsbesuch beim Befreiungskomitee im Rathaus sagte: „Paris. Paris outragé. Paris brisé. Paris martyrisé. Mais Paris liberé“ – „Paris – beleidigt, zerschlagen, gequält. Aber befreit.“

Ein Augenzeuge jener Szene, der spätere Gründer der konservativen Boulevardzeitung France Soir, Robert Salmon, sagt heute, dass dieser Satz hängen blieb, weil es der einzige interessante Satz in einer langweiligen Rede war. Exwiderstandskämpfer Salmon: „Wir erwarteten eine große Erklärung von de Gaulle. Zum Beispiel: Ich erkläre die Wiedereinführung der französischen Republik. Das kam nicht.“

Für de Gaulle hat die französische Republik nie aufgehört zu existieren. Die schweigende Mehrheit, die aktiv oder passiv kollaboriert hatte, machte er nicht zum Thema. Im Sinne der nationalen Verständigung.

Anders als bei den Feiern in der Normandie und in der Provence sind in Paris keine Gäste aus dem Ausland geladen. Die Ausnahme ist wieder kulturell: vier Bischöfe – aus Washington, London, Ottawa und Berlin – werden morgen zusammen mit Kardinal Lustiger in Notre-Dame beten.