Verrat am Verräter

von ASTRID GEISLER

Beim letzten Gang von der Telefonzelle im Dorf zurück zum Waldhaus ahnte er, wer der Verlierer sein würde. 17 Tage hatte er sich versteckt, gewartet, gehofft, gewartet. Nun wusste er: Die Zeitschrift mit seinem Namen und seinem Foto lag an jedem Kiosk. Er war enttarnt. Es begann, was John Siegfried Mehnert den „Brand in der Mitte meines Lebens“ nennt.

Mehr als 20 Jahre ist das her. Heute sitzt er wenige Kilometer entfernt von seinem einstigen Unterschlupf in der Lüneburger Heide am Kaffeetisch im Garten. Ruhig und aufgeräumt wirkt der 63-Jährige, so wie das Provinzidyll, das ihn umgibt. Die Nachmittagssonne scheint, die Enkel fischen im Planschbecken nach Käfern, ein Pferdegespann zieht am Zaun vorbei. Nie hat er öffentlich über den Verrat gesprochen.

Ihm wäre auch nicht mehr die Idee gekommen nach all den Jahren, sagt Mehnert. Obwohl seit Juli viel diskutiert wird darüber, wie es ist, wenn man bloßgestellt wird als Informant. Seit der britische Waffenexperte David Kelly sich eine Pulsader aufschnitt und verblutete. Natürlich war der Fall Kellys anders – es ging um den Irakkrieg und um die britische Regierung. John Siegfried Mehnert hat sich auch nicht umgebracht. Aber er wurde wie Kelly verraten, enttarnt als Quelle einer spektakulären Enthüllung, kippte aus der Bahn, auf der sein Leben bis dahin so zuverlässig gelaufen war. Während Kelly seit seinem Selbstmord als tragischer Held gesehen wird, hat der Fall Mehnert in Deutschland nie interessiert. John Siegfried Mehnert wurde einfach vergessen.

Geknackte Aktenschränke

Es begann mit einem Gaunerstück Mehnerts. Nach seinem Rauswurf als Pressesprecher des gewerkschaftseigenen Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat drang Mehnert heimlich in die Vorstandsetage ein, knackte Aktenschränke, kopierte Unterlagen. Für den Fall, dass jemand ihn ertappen könnte, trug er ein Abschiedspräsent für die Sekretärin eines Chefs bei sich, mehr nicht. Keiner bemerkte ihn. Seine Beute belegte: Die Chefs der Neuen Heimat ließen sich als soziale Vorkämpfer feiern, obwohl sie seit Jahren über Tarnfirmen in die eigene Tasche wirtschafteten – auf Kosten der Mieter. Mehnert bot Stern und Spiegel die Funde an, Augstein kaufte das Paket. So ließ der Spiegel im Frühjahr 1982 platzen, was als größter Gewerkschaftsskandal in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen sollte. Nur drei Wochen später flog Mehnert auf.

John Siegfried Mehnert war 42 damals und weit gekommen. Fünf Jahre hatte er selbst als Wirtschaftsredakteur für den Spiegel geschrieben, drei Jahre der Neuen Heimat als Pressechef gedient. „Und dann stand ich …“, er zögert, „ … da.“ Es war passiert, was Mehnert für unmöglich gehalten hatte.

Dabei habe er sich großartig gefühlt und nichts befürchtet, als am 8. Februar 1982 endlich der Spiegel-Bericht erschienen war, erzählt Mehnert. „Es war wie …“ Er sucht. „Ich war fast benebelt. Befreit. Es war ein Glücksmoment. Die ganze Spannung, die sich aufgebaut hatte, die platzte. Der Vorhang ging auf. Premiere.“ Er feierte die ganze Nacht mit einer Freundin auf der Reeperbahn. Es war ja auch sein Verdienst, seine Enthüllung.

Kaum 48 Stunden nach dem ersten Spiegel-Bericht aber spürte er, wie Angst ihn zu treiben begann. Mehnert tauchte in der Nordheide ab. Vor den Fragen der Kollegen, weil Freunde warnten. In St. Pauli werde sich schon jemand finden, der bereit wäre, ihn abzuknallen für 5.000 Mark. Die Bosse der Neuen Heimat müssten doch auf ihn kommen. „Bring dich aus dem Schuss!“ Mehnert war nicht mehr erreichbar. Einmal täglich ging er in den nächsten Ort – zur Telefonzelle und zum Zeitungsladen. Er wartete darauf, „dass es sich legt“. Doch nichts legte sich.

Er hat den Artikel aus der Bunten aufbewahrt, der Schuld ist daran. Eine Seite, mehr nicht. „25. Februar 1982“ ist säuberlich mit Kuli darauf ergänzt, der Tag seiner Enttarnung. Eine Nebenrolle spielt er in dem Bericht. Der Stern hatte sich das Neue-Heimat-Dossier entgehen lassen, das war die eigentliche Story. Trotzdem schrieb die Bunte auch: Bei dem Informanten „handelte es sich – so Stern-Redakteure heute – um den ehemaligen ‚Neue Heimat‘-Pressechef Siegfried Mehnert.“ Daneben sein Foto. Riesenbrille, grimmiger Blick. Verkaufte Auflage der Bunten: Über 1,2 Millionen Exemplare.

„Eine Weltveränderung“ nennt Mehnert, was er danach durchgemacht hat. Gequält habe er sich, und sich gequält gefühlt. Wehrlos, unverstanden, wie in einem Traum, der dem Verstand nicht mehr gehorcht. Er erzählt das ruhig und leise: „Also. Ich glaube schon, dass mich das zwei Jahre meines Lebens kosten wird.“

Theater an der Reeperbahn

Man erkennt John Siegfried Mehnert nicht wieder, wie er heute im Garten sitzt, ohne Brille, mit weißen Haar. Aufgeräumt und zufrieden sieht er aus. In seinem gebügelten Hemd und der beigefarbenen Hose könnte man ihn für einen dieser klugen, gesetzten Herrn aus dem Fernseh-„Presseclub“ halten. Nichts lässt erahnen, welchen Sprung er wagte, als ihm der „Brand“ in der Mitte seines Lebens den Weg versperrte: dass er in Hamburg an der Reeperbahn ein Kellertheater eröffnete, dass er in New York Schauspielunterricht nahm, im „Tatort“ auftrat und schließlich an städtischen Bühnen in Bremen, Wuppertal, Frankfurt und Magdeburg.

In einer Mappe auf dem Gartentisch stapeln sich zentimeterdick Presseberichte aus dem Jahr 1982. Eigentlich hätte er sich täglich freuen können über neue Skandal-Schlagzeilen. Stattdessen schlug er sich herum mit den Folgen der Enttarnung. Die Bunte hatte mit dem Bericht ein Tabu gebrochen. Mehnert sei „der erste und einzige Fall in meinen 27 Jahren im Haus“ gewesen, bei dem eine Quelle bloßgestellt worden sei, versichert Hermann Bott, damals Wirtschaftsredakteur beim Spiegel und einer der Rechercheure des Neue-Heimat-Skandals. Die Öffentlichkeit habe die Affäre aber kaum wahrgenommen. Mehnert sah, wie der Spiegel bewundert wurde für die Enthüllungen. „Ich bin nie gefeiert worden dafür.“

Stattdessen kam er vor Gericht, auf die Anklagebank. Die Neue Heimat selbst trat als Klägerin auf, forderte Geld, mehr als zehn Millionen Mark Schadenersatz – weil er Firmengeheimnisse verraten habe. Mehnert drohte der Ruin. Er schwieg, weil seine Anwälte dazu rieten. Bekennen wäre riskant gewesen. Denn der Neuen Heimat fehlte der Beweis, wer wirklich die Quelle gewesen war. Mehnert gewann den Prozess, wortlos.

Vom Bruder verleugnet

Was er nicht besiegte, war das Gefühl, als Bote der schlechten Nachricht zu Unrecht verdammt zu werden. Mehnert sah die Ankläger überall, im Freundeskreis, in der Familie. „Es gab eine Koalition von rechts und links, die mich mit Vorwürfen konfrontierte“, erzählt er. „Die Rechte sagte: Das tut man nicht, als ehemaliger Angestellter sein Unternehmen verraten.“ Für die Linke sei er fortan ein „Arbeiterverräter“ gewesen, einer, der die Gewerkschaften ruiniert und dafür auch noch Zehntausende kassiert hatte. Weggefährten, die er für Freunde gehalten hatte, waren plötzlich nicht zu sprechen. Irgendwann fragten Banker-Kollegen seinen Bruder, ob er verwandt sei mit diesem Neue-Heimat-Typen. Nein, sagte der Bruder da. Mehnert lacht kurz auf. „Ich bin von meinem eigenen Bruder verleugnet worden!“ Er klingt eher ratlos als bitter.

Gut ein Jahr nach dem ersten Enthüllungsbericht hatte Mehnert so viel nicht mehr zu verlieren: Als Pressesprecher hatte er sich unmöglich gemacht, kein Unternehmen hätte ihn mehr eingestellt, zurück in den Journalismus wollte er nicht, er lebte vom Sparkonto, von den Resten seiner Abfindung, von einem „fünfstelligen“ Honorar für das Neue-Heimat-Dossier. Der Freundeskreis hatte sich gelichtet, nebenbei war auch noch seine Ehe zerbrochen. Er hätte sich erledigt fühlen können, am Ende. Aber an Selbstmord, sagt Mehnert, habe er nie gedacht. Er sah seine Chance.

Er musste kein neues Ziel suchen. Er brauchte nichts als den Übermut, mit 42 Jahren ein sehr altes Vorhaben noch einmal anzugehen. Als Student hatte er Kabarett gespielt und von einem Leben als Schauspieler geträumt – bis er Vater wurde mit 23 Jahren. Nun waren die Hürden von damals hinfällig – Familienpflichten, Sicherheiten, Karriereplanung. „Die Weichen“, sagt Mehnert, „waren gestellt.“

Seine Stimme klingt begeistert, als er von seinem Neuanfang erzählt. „Die Kunst, die verstand mich ganz schnell. Die nahm mich ganz vorbehaltlos auf, sogar freudig. Für die war ich ein bunter Vogel!“ Aus dem alten Bekanntenkreis hörte er ein Tuscheln: „Der spinnt, der ist nach Amerika ausgewandert, der spielt jetzt Kasperletheater.“ Mehnert gab derweil den Narren in Shakespeares „Was ihr wollt“ und rief ins Publikum: „Je mehr Freunde, desto schlimmer, und je mehr Feinde, desto besser!“

So hätte die Geschichte von Mehnert und der Neuen Heimat enden können. Doch es war zu früh für einen Schluss. Es vergingen 15 Jahre. Der Wohnungskonzern war tot, der Skandal fast vergessen, da veröffentlichte Mehnert ein Buch, Untertitel: „Der größte Wirtschaftsskandal der Nachkriegsgeschichte, aufgeschrieben von dem Mann, der die Neue Heimat zu Fall brachte.“ Er suchte kein Mitleid, er war zufrieden als Schauspieler, froh über den Bruch. „Ich glaube“, sagt er, „ich hätte sonst sehr, sehr viel vermisst.“ Aber er verschweigt nicht, dass er auf etwas noch hoffte damals: auf Anerkennung für seine Rolle als Enthüller, auf Applaus, den er nie bekommen hatte. Es blieb wieder ziemlich still.

Sechs Jahre sind seither vergangen, das Buch ist vergriffen. „Ich bin von leichtsinnigen oder skrupellosen Journalisten verkauft worden“, sagt Mehnert. „Das ist mein Schicksal an der Geschichte.“ Anklagend klingt er nicht. Er stellt nur fest: So habe ich es erlebt. Auch wenn es keinen interessiert hat.