Für einen Schuss Heroin

Das NRW Forum zeigt eine Werkschau des spanischen Performance-Stars und Biennale-Teilnehmers Santiago Sierra. Auf einen Live-Act hätte das Museum allerdings Jahre warten müssen

Alles, was er in den Kunstmarkt einschleust, wird kommerzialisiert

VON PETER ORTMANN

Schon beim Treppenaufstieg in den ersten Stock des NRW-Forums in Düsseldorf ist der Besucher verwirrt. Eine Trompete spielt „El Deguello“ – die mexikanische Todesmelodie. Längst vergessene Bilder eines Howard Hawks-Films tauchen auf, bevor man die ersten drei Flüssigkristall-Monitore sieht, auf denen Performances des in Mexico lebenden spanischen Künstlers Santiago Sierra dokumentiert sind. Eines zeigt einen Trompeter im New Yorker Battery Park, im Hintergrund die Freiheitsstatue. Er spielt „El Degüello“, eine Version des finnischen Komponisten Dimitri Tiomkin. Die Polizei verhinderte im letzten Jahr die Aufführung der 24 Stunden-Aktion vor der New Yorker Börse.

Für Sierra ist das nichts Ungewöhnliches. Ständig gerät er in Konflikte mit dem Gesetz, mit Museumsleitern, Besuchern und öffentlichen Ordnungshütern. „Rücksichtslosigkeit scheint ein Konzept der jungen Künstler aus Südamerika zu sein“, sagt Werner Lippert vom NRW-Forum. So habe der Künstler – der bei der letzten Biennale in Venedig mit einem zugemauerten Pavillon für Aufsehen sorgte, weil er nur Besitzer eines spanischen Passes hineinließ – auch in Guatemala das Publikum vor den Kopf gestoßen. Die wurden mit einem fensterlosen Kleinbus durch die Stadt gekarrt, in der Hoffnung eine spannende Performance zu erleben. Irgendwo „an einer ekligen Stelle“ wurden sie dann herausgelassen. Die Aktion war die ungemütliche Reise selbst.

Sierra brüskiert die Schickeria des Kunstmarkts, die Museumsdirektoren, deren heilige Hallen er mit einem Presslufthammer entweiht und die Galeristen, „deren Räume er zertrümmert“, so Lippert. Doch der Markt braucht frisches Blut und so wird jede Schandtat verziehen, der Künstler umworben wie ein Pop-Star. Alles, was Sierra in den Kunstmarkt einschleust, wird kommerzialisiert, die Brutalität mit der Sierra arbeitet, verliert sich in den Depots der Museen schnell. „Er sucht nicht nach einer Lösung dagegen“, sagt Lippert, der in der Aufbauphase lange mit dem Künstler kommunizierte. Man hätte auch eine Live-Performance haben können – in zwei bis drei Jahren. So lange wollte in Düsseldorf niemand warten, der 38-jährige Wahl-Mexikaner ist momentan eben en vogue – man begnügte sich mit der dokumentarischen Schau.

Großformatige Schwarzweiß-Fotos und Videos der Aktionen sind in den zwei kleinen Räumen zu sehen. Einer davon ist ein reiner Fernsehsaal, in dem die zum Teil abendfüllenden Dokumente gesehen werden können. Jeden Tag zeigt das Museum ein anderes Highlight, darunter auch das Video aus Puerto Rico, in dem sich zwei Junkies für eine künstlerische Kopfrasur nebst Foto-Shooting mit einem Schuss Heroin bezahlen ließen. Die Auszahlung des Honorars führte zu rechtlichen Auseinandersetzungen – natürlicher Teil der Aktion. „Viele Besucher kommen mehrmals, das war schon bei unserer Video-Ausstellung so“, sagt Werner Lippert stolz, deswegen gebe es eine Dauerkarte.

Den letzten Skandal erzeugte Santiago Sierra Anfang des Jahres in Österreich. Im Kunsthaus Bregenz belastete Sierra den Boden mit 300 Tonnen Beton so nah an der Grenze der Statik, dass nur noch höchstens zehn Besucher das Haus betreten durften. Das Betreten wurde so zum emotionalen Prüfstein. Architekt Peter Zumthor fand das überhaupt nicht lustig. Er versuchte die Aktion zu verhindern. Die Freiheit der Architektur prallte mit der Freiheit der Kunst aufeinander. Doch der Beton wurde geliefert und installiert. Sierra schoss eine neue Fotoserie, das Kunst-Publikum bildete brav Schlagen vor dem Gebäude, die Fachwelt jubelte und Zumthor freute sich am Ende doch über die neue Popularität. Für die beiden Junkies aus Puerto Rico interessiert sich niemand mehr – wenn sie noch leben.