der müll, die ferien und der tod von HARTMUT EL KURDI
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Bei meinem letzten Heimatbesuch erzählte mir meine Mutter, dass Andreas Stamm jetzt Freigang habe. Andreas Stamm war ein Idol meiner Vorpubertät. Er war vierzehn und damit gut zwei Jahre älter als ich und galt als der scheißcoolste Typ unserer Siedlung. Aus von mir nicht nachzuvollziehenden Gründen erwählte er mich in den Sommerferien 1976 zu seinem Gefährten, was bedeutet, dass ich ihm wie ein Schatten zu folgen und mich über jeden seiner Witze schier zu übergeben hatte. Was ich auch bereitwillig tat.

Schwerer fiel es mir, sein Sozialverhalten zu kopieren. Im Schweiße meines Angesichtes lernte ich, Rentner auf ihren nächsten Wohnort („Hauptfriedhof“) hinzuweisen, erwachsene Frauen abwechselnd mit „Frollein“ und „Hey Muschi“ anzusprechen, Reval auf Lunge zu rauchen und vor allem: die Welt exzessiv zuzusauen!

Müll wurde grundsätzlich einfach fallen gelassen, auch in Innenräumen, auch majoverschmierte Pommestüten und zermatschte Bananen, in der Fußgängerzone rotzten wir im Vorbeigehen möglichst grün auf die Schaufensterscheiben, und leere Glasflaschen schlugen wir auf dem Gehweg zu Scherben. Sicher, heute ist das gesellschaftlicher Standard, damals war das Rebellion without a cause! Und für ein hygienisch tipitopi erzogenes Kind wie mich ein hartes Stück Arbeit. Aber da ich entschlossen war, meine Position als Adlatus des coolen Andreas nicht wieder zu verlieren, tat ich, was getan werden musste.

Trotzdem wurde Andreas nach den Ferien meiner überdrüssig und beendete unser Master-and-Servant-Verhältnis mit einem angemessenen „Verpiss dich, Pimmel!“. Und das tat ich schnell, weil ich befürchtete, er habe doch noch bemerkt, dass ich ihm einmal, als ich in seinem Zimmer auf ihn warten musste, in einem Anfall von Verwirrung ein für den Schlüsselbund gedachtes Miniatur-Schweizermesser gestohlen hatte. Aber glücklicherweise kam die tollkühne Tat nicht zur Sprache.

Mein Leben normalisierte sich langsam: Abfall warf ich wieder in den Eimer, zu älteren Menschen sagte ich wieder „Herr Kornrumpf“ und „Frau Grunewald“. Selbstverständlich konnte ich die Festplatte nicht komplett löschen, sodass ich bis heute ein stets abrufbares Repertoire an pöbelndem Punkverhalten habe, von dem ich bei Bedarf Gebrauch machen kann.

Von Andreas, der kurz nach unserem Sommer weggezogen war, hörte ich lange nichts mehr. Knapp fünfzehn Jahre später jedoch saß ich eines Abends vor dem Fernseher und schaute „Aktenzeichen XY ungelöst“. Sein Gesicht erkannte ich nicht gleich. Nur der Name kam mir bekannt vor. „Andreas Stamm?“, dachte ich, „ … der heißt ja genau wie unser Andreas Stamm!“ Dann rief ich meine Mutter an, die mir meinen Verdacht bestätigte. Ja, ja, das wisse sie von Frau Neumann, der Stamm habe wegen Raubes gesessen, sei vor einer Woche aus dem Knast ausgebrochen, habe ein alte Oma überfallen und getötet. Jetzt sei er auf der Flucht.

Er wurde schließlich nach einigen Wochen in Australien gefasst. Und bekam „lebenslänglich“. Jetzt hat er schon wieder Freigang. Manchmal wache ich nachts auf und denke an das Schweizermesser.