Das ganze Leben am Arsch

Einst war sie magisches Ritual und Symbol der selbst gewählten oder aufgezwungenen Ausgrenzung – heute ist die Tätowierung zum sinnentleerten Modespaß geworden. Ihre einzige Botschaft: Wir sind alle Individualisten. Irgendwie

VON JUDITH HYAMS

Wer schön sein will, muss leiden, heißt es. Manchmal muss aber auch der unbeteiligte Betrachter leiden, vor allem wenn er hilflos feststellt, dass dezidiert schön Gemeintes nicht schön sein muss. Ästhetisch besonders belästigend ist das so genannte Arschgeweih. Von anfänglich unkonventioneller Lower-back-Dekoration hat es sich zum lebenslänglichen Zeichen von missglücktem Individualismus gewandelt. Den Pionierinnen diente es noch als Zeichen von Einzigartigkeit, jetzt ist es in seiner fortgeschrittenen Beliebigkeit genau das Gegenteil. Die kreuzartige Tätowierung, die stilecht in der Vertikalen mindestens doppelt so lang sein muss wie in der Horizontalen, schmückt seit etwa drei Jahren vorwiegend jung-weibliche Steiße und ist somit als erste eigenständige Tattoomode fast komplett weiblich codiert.

Eine frivole Einladung

Vor allem in der Vorurlaubszeit stöhnen Berufstätowierer über die technisch anspruchslose Massenabfertigung, und ein Ende ist nicht mal in Sicht. Das Arschgeweih ist allgegenwärtig, was auch an der lustigen Bezeichnung liegt, die ein Spektrum von Jagdtrophäe bis hin zur echt germanischen Fäkalsprache beinhaltet. Eigentlich als dekorativer Hingucker gedacht, wird das am unteren Rückenbereich platzierte, durch die nicht mehr ganz taufrische Bauchfrei-Mode betonte Tattoo häufig als frivole a tergo-Einladung empfunden. Oder auch selbst inszeniert.

Zur endgültigen Fleischbeschau geraten dann Veranstaltungen wie die Wahlen zur „Miss Arschgeweih 2004“, die kürzlich in Berlin von Bild und „Jägermeister“ initiiert und durchgeführt wurden. Gewonnen hat ausgerechnet eine 25-jährige Polizeimeisterin aus Berlin-Spandau, die zwar an allen üblichen und unüblichen Stellen tätowiert ist, jedoch peinlich genau darauf achtet, dass keines unter ihrer Uniform hervorguckt (angeblich nimmt sie im Dienst auch „ihr Zahnfleischpiercing raus“). Tattoos dienten früher als Erkennungsmerkmal von Randgruppen wie Häftlingen oder Matrosen, jetzt sind sie bei der Polizei angekommen und bewegen sich damit also endgültig im grünen Bereich. Ein Paradigmenwechsel, der unter die Haut geht.

Die Maori wurden sauer

Als Initiation und rituelle Handlung ist das aus dem Ritzen der Haut entstandene Tätowieren nicht nur schon sehr lange, sondern auch in unterschiedlichsten Gesellschaften vom Amazonas bis zu den Pazifikinseln bekannt. Ebenso allgegenwärtig wie vielfältig sind auch Sinn und Bedeutung: ob Stigma oder Schmuck, politisches Statement oder Ausdruck religiöser Zugehörigkeit, definierten sie meist eine bestimmte Gruppe. Dies konnten Sklaven oder Geweihte sein, besonders im Westen aber wurden gern Verbrecher gezeichnet, die die einschlägigen Symbole dann wiederum selber benutzten, um sich von der Outsider- zur Insidergruppe zu erhöhen. In der Knasttätowierung der blassblauen Tränen ist dieser Brauch immer noch lebendig.

Bei den Maori, den Ureinwohnern der pazifischen Inseln und Neuseelands, gehört die Körperzeichnung zur Tradition. Während sie das Tattoo als ebenso schmückend wie magisch besetzt verstanden, wurden sie nach bester Kolonialmanier als Attraktion auf europäischen Jahrmärkten ausgestellt, nachdem Kapitän Cook 1774 den ersten Polynesier ins bleiche Europa geschleppt hatte. Heute sind die Maori-Motive alles andere als eine Seltenheit, sind doch von den mindestens zwei Millionen tätowierten Deutschen nicht wenige mit den so genannten Tribals bestochen. Die geschwungenen, tiefschwarzen Motive sind ebenso beliebt wie verwestlicht, und damit meilenweit vom Ursprung entfernt. Spätestens seit den Hochglanzfotografien von Gian P. Barbieri, auf welchen nackte Tahitianer ihre naturgestählten tätowierten Körper präsentieren, ist der tribale Ethnolook schwer in Mode.

Die Mischung aus attraktiver Verzierung und quasireligiöser Botschaft gefiel auch Robbie Williams. Als er sich ein „Tribal“-Motiv auf den Arm stechen ließ, erregte er unwillentlich Zorn und Ablehnung der Maori, die Missbrauch durch Ungläubige wähnten. Mike Tyson dagegen stieß bei den Ureinwohnern auf weniger Ärger, schließlich erinnert sein stilisiertes tribales Tattoo an seinem linken Auge kaum mehr an echte Maorisymbolik, außerdem versuchte er sich gar nicht erst an spirituellem Überbau, wie er selbst schlagfertig begründete: „Ich wollte einfach etwas im Gesicht haben – weil ich nicht mochte, wie mein Gesicht aussieht.“ Diese schlichte Botschaft teilen wohl viele Bestochene, gerade die tribal Gezeichneten mögen die Mischung aus Ästhetik und kompletter Bedeutungslosigkeit.

Die als „Traditionals“ bezeichneten, hinlänglich bekannten maritimen Motive wie Herzen, Anker und Rosen sterben zwar nicht aus, im Trend aber sind im weitesten Sinne exotische Motive. Dabei stören weder protestierende Maori noch sich selbst auflösende oder widersprechende Sinnzusammenhänge. Neben den „Tribals“, zu denen auch das beliebte Arschgeweih gehört, steht das filigran verschlungene „Celtic“. Hinzu gesellt sich der ferne Osten mit japanischen Schriftzeichen, chinesischen Drachen und indischen Motiven. Dabei ist der Körperschmuck vollkommen sinnentleert – es bleibt nur die Zierde. Mit der Übernahme solcher Zeichen feiern die Globalisierungskinder zwar ein Ende des Monotheismus, sind dabei aber stets in Gefahr, einen Fauxpas zu begehen, wie etwa jene junge, unbedarfte Israelin, die sich auf ihrer Indienreise das Sonnenzeichen auf die linke Hand tätowieren ließ. Zurück in der Heimat fiel ihr neuer Schmuck mehr als unangenehm auf, und ihren Landsleuten war es dabei sehr egal, ob das Hakenkreuz nach links oder rechts zeigte. Nicht umsonst denkt man beim Thema Tätowierung auch an die Nazis. Ihr Rassismus zeigte sich auch in den Markierungsnummern, die sie den KZ-Häftlingen aufzwangen. So ist das Tattoo, unfreiwillig eingesetzt, auch Folter- und Erniedrigungsinstrument. Gleichzeitig gravierte die SS ihren eigenen Mitgliedern die Blutgruppenzugehörigkeit in die linke Achselhöhle, um so ihre exklusive Zugehörigkeit zum Totenkopforden zu dokumentieren. In all seiner Ambivalenz ist das Tattoo auch hier von klassischer Bedeutung: als Markierung und Absonderungsmerkmal einer Randgruppe.

Der ironische Strichcode

Der Markierung als Selbstzweck ist im Zuge der aktuellen Tattoomode das ironischste aller Motive entsprungen, der Strichcode. Am Hinterkopf eintätowiert, zeugt er sowohl von subversiver Komsumkritik als auch von der fatalistischen Erkenntnis: Auch ich bin ein Produkt meiner Zeit.

Die Umcodierung der Tätowierung vom vormals magisch-religiös besetzten Zeichen und Brandmarkung der Unterweltmenschen folgte in den Neunzigern der Sprung an die glatte Oberfläche. Erlaubt ist fortan, was gefällt. Im Zuge der narzisstisch-körperbewussten Spaßgesellschaft hat das Tattoo einerseits an Bedeutung verloren, gleichzeitig aber eine Vielzahl von Anhängern gewonnen. Während Hippies, Rocker und Punker das Tattoo noch als Aus- und Hinweis ihrer Subkultur benutzten, schwappte es mit der Technowelle der Neunziger erst in die Klubs der Großstädte und schließlich in die Fußgängerzonen der Kleinstädte. Gab es 1980 bundesweit erst vierzehn Tattoostudios, sind es heute nach vorsichtigen Schätzungen rund 3.000.

Gestochen wird jedes Körperteil und beinahe jedes Motiv. Jenseits aller Klassenhierarchie ist das Tattoo zum wahrhaft basisdemokratischen Vehikel der schlichten Botschaft „Ich bin individuell“ geworden. Inflationär gebraucht, wendet sich diese Aussage jedoch ins Gegenteil. Betrachtet man die unter 35-Jährigen genauer, trifft man an irgendeinem Körperteil fast immer auf ein Tattoo. Somit ist heute gerade der nicht tätowierte Körper wieder etwas Besonderes geworden.

Trotz aller No-Logo-Bestrebung ist das Tattoo immer ein Label. Während Design und Marke aber saisonal veränderbar sind, bedeutet tätowiert sein immer: lebenslang. Die Maßnahmen zur Entfernung sind ebenso teuer wie schmerzhaft (siehe Kasten). Es bleiben Narben und dazu das ungute Gefühl, irgendwie inkonsequent zu sein. Dann stehen viele lieber konsequent zu ihren Jugendsünden, auch wenn Tätowierungen nicht nur irgendwann ihren Sinn, sondern ganz bestimmt ihre Form verlieren. Man braucht kein Tattoo-Verächter zu sein, um sich ein um 60 Jahre gealtertes Arschgeweih wenig ästhetisch vorzustellen. Andererseits, entgegnen überzeugte Tätowierte, ist auch ein untätowierter Steißbereich in dieser Altersklasse längst kein Hingucker mehr.

Akzente unterm Schlafanzug

Auch wenn Farben verblassen, Konturen verwischen und Motive verjähren, erzählen gerade die abgewrackten Tattoos Geschichten. Als körperliches Tagebuch zeigen sie jugendliche Unbekümmertheit, Idealismus und Überzeugung – auch wenn diese längst vergangen sind. Mit steigender Lebenserwartung sowie steigender Tätowierbereitschaft werden die Altenpfleger der Zukunft mit einer besonders akzentuierten Körperlichkeit umgehen müssen. Kaum mehr entzifferbare Motive unterm Schlafanzug, an zerlaufene Tintenklekse erinnernde japanische Schriftzeichen und vereinzelte dunkle Flecke am unteren Rücken. Eine Botschaft haben diese Motive dann nicht mehr, bis auf eine leise, kollektive: „Wir sind alle Individualisten.“