Nicht von Pappe

Die Münchner Straßenzeitung „Biss“ gilt als die erfolgreichste der Republik. Mit einer internationalen Fotografie-Ausstellung feiert sie ihr 10-jähriges Jubiläum in der Münchner Pinakothek der Moderne

von IRA MAZZONI

Der Kontrast könnte nicht schärfer sein: Bilder von der „Architektur der Obdachlosigkeit“ in der Pinakothek der Moderne. Fotografien von Behausungen aus Pappe, schwarzen Müllsäcken, Regenschirmen. Solche Dokumente notgeborener Improvisation verstören in einem Bau, der die weite weiße Leere zelebriert.

Im Kunstbezirk des „interesselosen Wohlgefallens“ provozieren die Sozialreportagen allein dadurch, dass sie ein Anliegen haben. Der glatte Galerierahmen soll den Blick für Lebenssituationen schärfen, die man als Passant lieber nur flüchtig streift.

Der Münchner Straßenzeitung Biss ist ein Coup geglückt, den teuersten Ausstellungsraum Münchens für ihre Mission zu nutzen. Der Generaldirektor der Staatsgemäldesammlungen, Reinhold Baumstark, folgt dem Impuls und will auch in Zukunft seinen Elfenbeinturm den „Nöten der Zeit“ öffnen. Fürs Erste hat er sich selbst drei Stunden an den Odeonsplatz gestellt und rekordverdächtige 120 Exemplare der neuen Ausgabe verkauft.

Seit zehn Jahren hilft Biss „Bürgerinnen und Bürgern in sozialen Schwierigkeiten“. Damit ist das Unternehmen nicht nur die älteste Straßenzeitung in Deutschland, sondern auch eine der erfolgreichsten. Der Verlag hat nicht nur ein journalistisch anspruchsvolles Produkt entwickelt, das Anzeigenkunden und Käufer findet, es muss niemandem aufgeschwatzt werden. So schafft Biss feste, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, bemüht sich um die Entschuldung ihrer Schützlinge und um eine ausreichende Altersversorgung.

Geschäftsführerin Hildegard Denninger predigt geradezu ihr kompexes Modell: Nur mit einer Festanstellung wird der Teufelskreis der Mittel- und Obdachlosigkeit unterbrochen. Nur mit festem Einkommen kann man unabhängig von der Sozialhilfe werden. Nur mit einem Job gelingt die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, hat Wohnungssuche Aussicht auf Erfolg. Und nur mit einer hinreichenden Rentenversicherung sitzen die Leute im Alter nicht wieder auf der Straße.

„Jede Straßenzeitung sollte der größte Arbeitgeber für Arme sein“, propagiert die gelernte Finanzbuchalterin Denninger und engagiert sich im neu gegründeten „International Network of Streetpapers“, zu dem weltweit 50 Straßenzeitungen gehören. Doch ein Arbeitgeber pro Stadt allein reicht nicht. In München leben 600 Menschen unter freiem Himmel, in Bayern mindestens 20.000, und bundesweit sollen es etwa eine halbe Million Menschen sein, die kein Obdach haben. Tendenz steigend.

Die von Karin Sagner kuratierte Fotoausstellung ist als Dank an alle Mitarbeiter und Förderer gedacht. Bei der Realisation haben bewährte Partner geholfen: allen voran die Werbeagentur Heye & Partner, die unentgeltlich auch dieses Ausstellungskonzept nebst dazugehörigen Werbemitteln entwickelt hat. Und so ist ein Gesamtkunstwerk geglückt, das unverkennbar die Corporate Identity von Biss trägt. Der Turner-Kunstpreisträger Wolfgang Tillmanns exponiert distanzierte Bestandsaufnahmen vom Leben auf der Straße. Flüchtige Begegnungen, Randmotive des eigenen Oeuvres. Die in München arbeitenden Fotografen Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch überraschen mit Bildern vom Interior-Design asiatischer Großstadtschlafplätze.

Die Serie, die im Auftrag von Biss Ende letzten Jahres entstand, überzeugt durch ihre Diskretion, die die Haltung der jeweiligen Bewohner spiegelt: In nahezu perfekter Mimikry passen sich die labilen Pappwände den vorgegebenen Strukturen von Treppen und U-Bahn-Schächten an. Mit penibler Sorgfalt wird die „bürgerliche Ordnung“ tradiert, die man mit dem Job verloren hat. Der belgische Fotograf John Vink beeindruckt mit einer unprätentiösen Schwarzweißdokumentation über Landlose in Kambodscha, die sich ihr Terrain in den Minenfeldern des Landes abgesteckt haben. Die Inderin Dyanita Singh begleitete den Eunuchen Mona Ahmed, der sich zwischen den Gräbern seiner Ahnen eingerichtet hat und davon träumt, dort ein Mädchenpensionat zu gründen, um die Verstoßenen von der Straße zu holen. Der Berliner Fotograf Wolfgang Bellwinkel fokussiert Münchner Matratzen.

Mit den im Studio gefertigten Nahaufnahmen der Lebensgrundlage Obdachloser entzieht sich Bellwinkel bewusst dem Genre der Sozialreportage. Auch wenn er Details der Privatsphäre zeigt, ist in der Ausschließlichkeit des Motivs jeder Voyeurismus vermieden. Boris Mikahailov schockiert mit entblößenden Porträts ukrainischer Obdachloser. Das Blitzlicht der Kamera kennt keine Scham und zeigt die entzündeten Körperwunden. Leuchtende Bilder, die vor allem von den Biss-Mitarbeitern heftig diskutiert wurden und zum Teil auf heftige Abwehr stießen: Das gehe zu weit, empfanden sie.

Fazit der Ausstellung: Die Welt ist ein globales Dorf der Unbehausten, Obdachlosigkeit längst kein exotisches Randphänomen mehr. Leider können die Bilder nur kurz in der Pinakothek der Moderne gezeigt werden. Zur Finissage am 21. September findet eine Auktion statt. Jeder Fotograf hat für den guten Zweck zwei bis drei Werke zur Verfügung gestellt.

Bis zum 21. 9.: „Architektur der Obdachlosigkeit“. Katalog (DuMont): 27 €