■ Die Frage sollte lauten: Haben wir zu wenig Menschen oder zu wenig Arbeit?
: Wenn das Marx wüsste …

betr.: „Auf Wiedersehen, Kinder“ (taz-Dossier: Deutschland sieht bald alt aus), taz vom 13. 9. 03

Die Behauptung, der Geburtenrückgang wäre Ursache des nun wachsenden sozialen Elends, weil damit die Steuerzahler von morgen fehlen, ist nicht haltbar. Man will damit den in der Ära des untergehenden Globalkapitalismus maximal profitgierig ausgebeuteten Menschen glauben machen, sie selbst trügen durch die mangelhafte Bereitschaft zur Kinderzeugung im Verbund mit den lebensverlängernden großen Heilungsfortschritten in der Medizin an ihrer wachsenden absoluten und relativen Verelendung Schuld. Wäre dem so, dann müssten die Länder der Dritten Welt mit ihrem Kinderüberschuss geradezu eine paradiesische Lebensqualität bis ins hohe Alter haben.

Die computergestützte Massenfließfertigung mit nachfolgender meist elektronisch gesteuerter Warenverteilung verdrängt beschleunigt den Anteil der lebendigen Arbeitskraft am Produkt. So produzieren einerseits immer weniger Menschen immer mehr Reichtum. Auf der anderen Seite werden immer mehr Menschen durch Arbeitslosigkeit vom Gelderwerb getrennt und verarmen. Das Institut für Freizeitforschung in Hamburg prognostizierte 1999 für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, dass in 30 Jahren nur noch 40 Prozent der Arbeitsfähigen eine Vollzeitbeschäftigung haben werden. Wozu also mehr Kinder zeugen?

Allerdings wächst der Reichtum ins Unermessliche. In Deutschland stieg einer veröffentlichten Statistik zufolge der Anteil jener mit mehr als einer Million (DM) Kapitalvermögen von rund 50.000 auf 75.000, und das innerhalb von nur zehn Jahren. Die Luxusgüterproduktion im Yacht- und Autobau hat Hochkonjunktur. Japanische Koi-Karpfen im Gartenteich zum Stückpreis von 25.000 Euro und mehr gehören zum neuen Statussymbol einer Gesellschaft, für die Steuerflucht und -betrügereien zur ersten Bürgerpflicht geworden sind.

Die fehlenden Kinder sind nicht Ursache des wachsenden Elends, sondern Wirkung des kapitalistischen Wirtschaftens, das alle Logik auf den Kopf stellt, allen Fortschritt in Technik und Medizin in den Nachteil des Einzelnen verkehrt. Diese anachronistische Gesellschaftsordnung wider das Menschsein, die nur noch durch Notstandsgesetze mit dem Etikettenschwindel „Reformen“ mühsam aufrechtzuerhalten ist, wird in dieser Form eines Tages überwunden sein – eben auch damit unsere Kinder das Meer weiter erleben dürfen. DIETER BOCK, Burgstall

betr.: „Deutsche, wollt ihr ewig leben?“, taz vom 13. 9. 03

„Der Nation gehen die Jungen aus“, heißt es im Untertitel. Aber nicht einmal für diese wenigen Jungen gibt es genügend Lehrstellen. Und für diejenigen, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, ist es schwer, eine erste Anstellung zu finden. […]

Wenn nun überlegt wird, denen, die keine Kinder in die Welt gesetzt haben, weniger Rente zu zahlen, weil nur die Kinder von heute die Rentner von morgen ernähren können, so sollte man doch fragen, welches der größere Engpass ist: Haben wir zu wenig Menschen oder zu wenig Arbeit? Könnte es nicht sein, dass die heutigen Kinder froh sein werden, wenn sie morgen außer ihren Eltern nicht auch noch ihre arbeitslosen Brüder und Schwestern ernähren müssen? LINDE PETERS, München

Ich stelle mir vor, wir könnten als Gesellschaft auf einen Schlag die Menge der Zehn- bis Zwanzigjährigen verdoppeln oder verdreifachen. Das wäre keine Lösung, sondern ein Alptraum in Sachen Logistik und Infrastruktur. Schon jetzt ist eine familien-/frauenfreundliche Kinderbetreuung nicht zu gewährleisten. Eine verlässliche (Grund-)Schule ist und bleibt politisches Fernziel. Universitäten sind völlig überbelegt und lehnen StudienbewerberInnen rigoros ab. Der Lehrstellenmarkt liegt seit Jahren am Boden, und wir leisten uns als Gesellschaft eine enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit. Alle staatlichen Zuwendungen in Sachen Jugend und Soziales werden gekappt. Und dann zu glauben, dass mehr „Nachwuchs“ mehr Erwerbswirtschaft etwa in Form von Arbeitsplätzen nach sich zieht, hat was mit Glauben, nicht mit Wissen zu tun.

Seit Jahrzehnten fehlt in unserer Gesellschaft der persönliche und politische Mut, sich den veränderten Bedingungen optimal anzupassen und überdies Verantwortung zu benennen und zu übernehmen – was die unzähligen Versuche von Reformen (schon das Wort ist inflationär) ohne nennenswerte Ergebnisse belegen. Zwei Verhaltensweisen werden den Status quo vorantreiben: 1. Wir sind ein reiches Land und offensichtlich nicht bereit, Wohlstand gerecht zu verteilen. 2. Wir sind eine umfassende Konsumgesellschaft geworden und zeigen wenig Neigung, selbst etwas zu unternehmen. Wir werden asozial und nörgelnd zurück ins soziale Mittelalter wandern. Vielleicht kommt die Verelendung des Proletariats ja doch noch – nur etwas später und etwas anders. Wenn das Marx wüsste!

WOLFGANG SIEDLER, Langenhagen

betr.: „Jetzt nicht, Schatz?“, taz vom 13. 9. 03

„Ja Schatz, aber nicht dieses Jahr“, sagen auch viele Frauen. Die richtige Partner/innenwahl ist für beide Geschlechter auch eine Kinderbekommfrage. Alle, die sich in einer spezifischen Lebensphase bzw. -situation treffen, haben kurzfristige, ichbezogene oder wie auch immer Interessen, die das Kinderkriegen verhindern können. […] Es geht um die Unterschiede zwischen zwei Menschen. Polarisierung ist fehl am Platze. Die Unterschiede liegen nicht nur in der persönlichen Situation. Zeitgeist, Konsumorientierung, Sicherheitsdenken und viele andere allgemeine Einflussgrößen kommen bei einer tieferen Beschäftigung mit der Frage zu Tage. Da Lösungen in dieser Frage immer von zwei Menschen abhängig sind, ist statt Polarisierung der Blick auf die Unterschiede in der momentanen Lebenssituation, der Verantwortung und den Perspektiven hilfreich. ROLF SCHEYER, Köln

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