Die Erben der Eunuchen

Mit großer Begeisterung werden überall in China die Aufritte der Olympioniken in Athen verfolgt, deren Medaillen-Beutezüge aber nur ein Vorgeschmack auf die Spiele im eigenen Land sein sollen

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Die erste Einladung aus dem fernen Europa, sich an Olympischen Spielen zu beteiligen, ignorierte die chinesische Regierung. Am Pekinger Hof wusste niemand, was mit dem rätselhaften Brief gemeint war. Als Kaiserinwitwe Cixi schließlich erfuhr, dass sich hinter dem Wort „Olympia“ Wettrennen und andere exotische Leibesübungen verbargen, kicherte die alte Dame. Sie könne ja ihre Eunuchen hinschicken, sagte sie: „Die laufen doch so gut.“

Das war 1896, als zum ersten Mal die Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen stattfanden. Sie mussten ohne Eunuchen auskommen. Mehr als hundert Jahre später herrscht Olympiafieber in China: Sonderprogramme bringen rund um die Uhr Nachrichten aus den Stadien in Griechenland. In vielen Städten des Landes – von der Mandschurei bis Tibet – können die Bewohner die Wettkämpfe auf überdimensionalen öffentlichen Leinwänden verfolgen. Händler bieten – gefälschte – Olympia-Maskottchen und Siegerkränze an, auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint täglich der neueste Medaillenspiegel. Jeder Sieg, jede Niederlage der heimischen Sportler wird durch und durch analysiert und kommentiert. „Als sie nach Athen kam, beachtete sie niemand. Aber als sie den Geburtsort der Olympischen Spiele verließ, ging ein Schauer über den Rücken ihrer Rivalen“. So feierte die englischsprachige China Daily zum Beispiel den überraschenden Sieg der 19-jährigen Wang Xu im Freistil-Ringen.

Aus dem bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts abgeschotteten China ist inzwischen eine der erfolgreichsten Sportnationen geworden: 267 Frauen und 138 Männer – die größte chinesische Olympiamannschaft der Geschichte – treten in fast allen Disziplinen an. Nur die USA hatten bis gestern mehr Medaillen erobert als die Sportler aus der Volksrepublik. Damit haben sie bereits ihr Soll übererfüllt: Zwanzig Goldmedaillen, so hatten die Sportfunktionäre vor Beginn der Spiele gehofft, würden ihre Schützlinge nach Hause bringen, 24 sind es schon.

Wichtiger noch als der Medaillensegen ist für die chinesischen Sportfunktionäre allerdings die Vorbereitung auf ihre eigenen Olympischen Spiele 2008 in Peking. Athen ist für sie ein Testlauf. In vier Jahren wollen die Chinesen so richtig abräumen – und sich und der Welt beweisen, dass die Volksrepublik im Sport mittlerweile zu den größten Weltnationen gehört. Mit den Erfolgen im Sport will die im Volk nicht sehr angesehene KP ihre Stärke beweisen und die ganze Nation in einem Schwall von Nationalismus vereinen. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Denn in vielen Disziplinen laufen die Chinesen hinterher. Da es in China wenig Breitensport gibt, fehlt es den Sportlern an Wettkampferfahrung. Etliche junge Athleten wurden deshalb nach Athen geschickt, damit sie die Atmosphäre einer großen Veranstaltung erleben.

Zu den Schwächen gehören die Leichtathletik und die Mannschaftssportarten. „Mannschaftsbegegnungen zeigen den wahren olympischen Geist“, erklärte der Pekinger Olympiafunktionär Duan Shijie. „Aber bislang haben wir noch keine einzige Goldmedaille in einem Mannschaftssport gewonnen.“ Das müsse sich bis zu den Olympischen Spielen in Peking im Jahr 2008 ändern, forderte er. Die Chinesen holen aber jetzt schon auf. Die Basketballer um den 2,26 Zentimeter großen Yao Ming schalteten Weltmeister Serbien-Montenegro aus – nachdem der Star der Houston Rockets zuvor ungewöhnlich offen die mangelnden Leistungen seiner Mitspieler beklagt hatte.

Die meisten Olympiateilnehmer kommen durch gezielte Auslese zu ihrer Disziplin. Wie ihre Sportkollegen in anderen Ländern locken die Sportverbände mit finanziellen Anreizen: Wer Gold nach Hause bringt, erhält 200.000 Yuan (rund 20.000 Euro), für Silber gibt es 120.000 Yuan und für Bronze 80.000 Yuan. Dazu kommen lukrative Werbeverträge – und vielleicht sogar die Hoffnung auf eine Sportkarriere im Ausland. Yao Ming hat gezeigt, wie es geht.