Ans Herz wachsen

Der erste Schultag ist oft der schönste: Kinder freuen sich auf neue Welten. Auch für Grundschullehrerin Gila Gappa ist das ein Feiertag

INTERVIEW MARTIN REICHERT

taz: Frau Gappa, sind Sie aufgeregt vor dem Tag der Einschulung?

Doch, klar, das bin ich.

Und dies mit all Ihrer Erfahrung?

Ja, auch wenn ich schon viele Berufsjahre hinter mir habe. Es werden ja von den Eltern, Großeltern und Verwandten ganz große Erwartungen in diesen Tag gesetzt, am allermeisten natürlich von dem Kind, das eingeschult wird. Dem möchte ich auch entsprechen und es gut machen: Es soll ein besonderes Erlebnis sein, für die ganze Familie, denn es beginnt ja für alle ein neuer Lebensabschnitt.

Welche Botschaft möchten Sie am ersten Tag vor allem vermitteln? Etwa: Hey, ich beiße nicht?

Nein, nur dass Schule etwas Schönes ist. Und: Du sollst gerne in die Schule gehen. Ich will dir helfen, dich in deiner neuen Umgebung zurechtzufinden, es wird dir Spaß machen, etwas zu lernen.

Wie riecht eine Klasse Erstklässler?

Neu und sauber, denn meistens sind die Wände des Klassenzimmers frisch gestrichen. Nach frischen Blumen, die ich auf das Pult gestellt habe. Ich gestalte alles festlich, und auf den Bänken liegt ein kleines Geschenk.

Wie lange dauert es, die Lieblingsschüler herauszusieben: Gibt es bei Ihnen Liebe auf den ersten Lehrerinnenblick?

Man darf als Lehrerin keine Lieblinge haben, man erkennt allerdings sehr schnell, welche SchülerInnen angenehm sein könnten in ihren Verhaltensweisen.

Können Sie wirklich verhindern, dass Sie Ihnen sympathischere Kinder nicht bevorzugen?

Das darf nicht geschehen, als Lehrerin muss ich mich da immer wieder neu überprüfen. Ganz freisprechen kann sich da sicher niemand, aber zu diesem Zweck gibt es Fortbildungen und Supervisionen. Jedes Kind hat das Recht, von der Lehrerin geliebt zu werden.

Welche Eigenschaften von Sechsjährigen mögen Sie am wenigsten?

Wenn Kinder intrigieren, nörglerisch sind, ständig einen unzufriedenen Eindruck machen, das Gefühl haben, zu kurz zu komm, sich in den Vordergrund spielen und streitsüchtig sind. Das finde ich persönlich sehr schwierig, das mag ich nicht.

Das Ringen um Aufmerksamkeit, ist das nicht auch ein Wettbewerb unter den Kindern?

Ja, tatsächlich. Es sind häufig auch allein gelassene Kinder, die wenig Zuwendung von zu Hause bekommen, bei denen es zu Hause Probleme gibt, und die dann nach einem Ausweg suchen, um auf sich aufmerksam zu machen. Es sind auch häufig Kinder, die unter Neid- oder Eifersuchtsgefühlen leiden, weil vielleicht bei ihnen ein Geschwisterkind hinterhergekommen ist oder weil ihre Stellung in der Familie nicht so glücklich ist. Es sind natürlich auch charakterliche Eigenschaften: Da muss man dann erzieherisch einwirken, manchmal ist der Lehrer eben auch Therapeut.

Woran erkennt man am ersten Schultag „Problemkinder“?

Am allerauffälligsten sind die Kinder, die den Unterricht stören. Problemkinder können aber auch ganz stille, ganz liebe Kinder sein. Dieses Phänomen hat deutlich zugenommen, es gibt mittlerweile keine Klasse mehr, die keine „Problemkinder“ hätte.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich würde als Stichwort „verlorene Kindheit“ nennen: Es wird einfach vieles vorweggenommen, zum Beispiel, wenn Kinder schon mit vier oder fünf Jahren in eine Kinderdisco gehen. Das lehne ich völlig ab, eine Disco gehört eben erst in die Pubertät. Dann diese mediale Überflutung: Eltern sind da häufig überfordert und tun ihren Kindern zu viel des Guten, mit Videospielen, Computern, Fernsehen. Hinzu kommt, dass viele Kinder keine Geschwister mehr haben, sie wachsen als eine Art „Goldkind“ auf, es dreht sich wirklich alles nur um dieses eine Kind. Da werden egoistische Verhaltensweisen trainiert, das beobachten wir verstärkt. Hier in der Schule fordern wir dann soziales Verhalten ein – und prompt sind die Kinder überfordert.

Kann man also von einer abnehmenden sozialen Kompetenz bei Erstklässlern sprechen?

Durchaus. Es gibt aber auch eine abnehmende sprachliche Kompetenz. Sehr viele Kinder können fast nicht oder nur schlecht sprechen. Sie haben häufig Sprachfehler.

Was machen Sie dann?

Die Eltern darauf hinweisen, dass ein Logopäde konsultiert werden sollte. Die vernachlässigte Sprachkompetenz bereitet uns Kummer. Sehr umstritten ist ja auch die ADHT-Problematik …

die Zappelphilippe?

Ja, die Kinder, die durch nichts zu beruhigen sind.

Und die bekommen dann Ritalin?

Das hängt von den Eltern ab.

Hat es diese Kinder früher nicht gegeben oder hat man das Problem so nicht erkannt?

Ich denke, beides trifft zu. Die Gesellschaft ist aufmerksamer geworden. Früher wurden dieser Kinder als verhaltensauffällig oder ungezogen abgestempelt. Das Bewusstsein ist geschärft. Ich meine aber auch, dass dieses Phänomen zugenommen hat. Ich glaube, dass viele Eltern zu verunsichert sind, sie trauen sich nicht, ihren Kindern Grenzen zu ziehen.

Woran erkennen Sie die soziale Herkunft eines Kindes als erstes?

Am Gesichtsausdruck: Ist das ein Kind, das nur mit Chips und Fernsehkonsum zufrieden gestellt wird, oder eines, das in sich ruht, eine Harmonie mit sich bringt, eine innere Zufriedenheit, ein Neugierigsein auf die Welt? Da gibt es einfach Unterschiede, ob ein Kind schon viel Unglück und Streit erfahren hat, oder ob es mit Liebe und Geborgenheit umgeben war. Ich kann das in den Augen lesen, auch Sprache ist ein großer Indikator.

Ein glückliches Kind spricht anders als ein vernachlässigtes?

Die Sprache des „glücklichen“ Kindes ist differenzierter, es kann sich besser ausdrücken, stellt auch ganz andere Fragen. Es gibt aber auch Kinder, die regelrecht abgestumpft sind, mit Sprache gar nicht umgehen können, weil zu Hause nicht mit ihnen gesprochen wird, geschweige denn, dass ihnen vorgelesen würde.

Haben alle Kinder von Anfang an die gleiche Chance?

Ja, aber es ist nicht zu leugnen, dass die soziale Herkunft eine gewichtige Rolle spielt. Die Schule bemüht sich jedoch mit Förderunterricht, vielen Elterngesprächen und auch dem Einsatz von Therapeuten, gleiche Chancen für alle zu ermöglichen. Wir können schon etliches erreichen, die Defizite der ersten sechs Jahre völlig auszugleichen, das schafft ein Lehrer nicht. Wenn überhaupt, dann nur in engster Zusammenarbeit mit den Eltern, und das ist nicht immer leicht.

Entwickeln Sie Muttergefühle gegenüber den Kleinen?

Eigentlich nur für meine eigenen Kinder. Aber wenn man als Lehrerin mit Engagement in die Schule geht, entwickelt man etwas Ähnliches: Die Kinder wachsen einem ja ganz doll ans Herz …

es werden Ihre Kinder?

Irgendwie, denn nachher sind es dann „meine Kinder“ in der Schule. Da vermischt sich schon etwas, ich verkörpere die Rolle der Lehrerin, bin aber natürlich auch eine Mutterfigur.

Wenn einer Ihrer Schüler reüssiert, irgendwann Karriere macht: Ist das dann auch Ihr Erfolg?

Das fände ich ehrlich gesagt unbescheiden, ich würde mir da nichts zuschreiben wollen. Wir sind natürlich wichtig in den ersten Schuljahren, vielleicht legen wir auch den ein oder anderen Grundstein.

Liegt das Schicksal eines Erstklässlers ein wenig auch in Ihren Händen?

Natürlich habe ich Einfluss. Ich renne ständig in die Bücherei und versuche, Themen mit Hilfe von Büchern zu vermitteln. Eine Kollegin hat mir neulich gesagt, dass ich ihr Kind mit Hilfe meines Buchprojekts zum Lesen gebracht habe. Das freut mich dann wirklich.

Schreiben Sie ihren Kindern vor dem ersten Schultag einen Brief?

Ja, eine Postkarte, auf der Teddybären abgebildet sind, die auf einer Schulbank sitzen: Lieber Soundso, nun kommst du bald in die Schule. Ich freue mich darauf, dich kennen zu lernen und wünsche dir alles Gute für deine Schulzeit.

Sie sind ja auch Bärenmutter: Sie betreuen ein Internet-Mitmach-Projekt für Grundschulkinder?

Oh ja, das Teddybärenprojekt, das vom Goethe-Institut unterstützt wird. Teddys, die um die Welt reisen und berichten – SchülerInnen können so andere Horizonte kennen lernen.

Gibt es ein Ziel, was möchte man nach sechs Jahren erreicht haben?

Ich möchte, dass die Kinder zu selbstbewussten, eigenverantwortlichen Menschen werden, die gerne lernen und auch bereit sind, die Anstrengungen des Übens auf sich zu nehmen. Zu Kindern, die gerne lesen. Und dann wünsche ich mir, dass sie ein angenehmes soziales Verhalten erlernt haben werden.

Wie sollte eine Grundschullehrerin beschaffen sein, der Sie ihr eigenes Kind anvertrauen würden?

Das Herz ist das Allerwichtigste! Es geht darum, die Seele der Kinder zu erreichen, das Lernen geht dann von selbst.

Sind Eltern oft ehrgeiziger, als die Kinder selbst?

Eltern überschätzen ihre Kinder häufig. Für uns ist es schwierig, ihnen klar zu machen: Wir haben die Erfahrung, wir kennen hunderte von Kindern und sie nur ihr eigenes. Die Standardbehauptung lautet oft: Zu Hause kann er alles, nur in der Schule klappt es nicht. Zu Hause sitzen die Kinder allerdings in ihrem goldenen Käfig. Wir stellen Forderungen, und dann zeigen sich eben die Unterschiede im Leistungsvermögen.

Einschulung bedeutet auch Initiation, Einführung in die Leistungsgesellschaft, es ist der Beginn von Bewertung, von Wettkampf: Ist das den Schülern bewusst, fühlen sie das?

Nicht in dem Maß. Sie haben gehört, dass es irgendwann Noten gibt, aber das spielt am ersten Tag gar keine Rolle.

Schon mal gedacht: Ihr Armen, ihr wisst gar nicht, was euch bevorsteht?

Ja. Ich denke dann: Ihr werdet noch manches Mal weinen und frustriert sein und merken, dass ihr an Grenzen stoßt, von denen ihr nichts geahnt habt.

Das Bärenprojekt von Gila Gappa im Internet: www.wir-in-berlin.de/teddy