„Die Debatte, ob im Sudan ein Genozid stattfindet, ist falsch“, sagt Kenneth Roth

Die Frage, ob in Darfur ein Völkermord tobt, lässt sich erst beantworten, wenn es für ein Eingreifen zu spät ist

taz: Herr Roth, wie ist die aktuelle Lage in Darfur?

Kenneth Roth: Verheerend. Zehntausende Einwohner sind tot, mehr als eine Million Menschen sind vertrieben – viele von ihnen leben ohne angemessene Wasser-, Nahrungs- und medizinische Versorgung. Und die in Darfur Verbliebenen leben in der Gefahr, vergewaltigt oder ermordet zu werden, wenn sie ihr Lager auf der Suche nach Lebensmitteln verlassen.

Und was ist jetzt zu tun?

Peinlich genug, dass der UN-Sicherheitsrat so spät eine verpflichtende Resolution zu Stande brachte. Wir haben seit Monaten darauf gedrängt. Jetzt sind die Schritte klar, die die sudanesische Regierung unternehmen muss. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Dschandschawid-Milizen gestoppt, aufgelöst und entwaffnet werden. Allerdings hat sie bis jetzt mehr Energie darauf verwandt, den Druck der UN abzuwenden als die Resolution zu erfüllen und das Abschlachten ihrer eigenen Leute zu beenden. Die Haltung der Regierung ist erbärmlich.

Was treibt Sie am meisten um, wenn Sie die Berichte Ihrer Leute aus dem Sudan lesen?

Eben dies – dass die Regierung die Kriegsführung der Dschandschawid zulässt. Im westlichen und nördlichen Darfur sind die meisten Dörfer schon gesäubert, die Einwohner vertrieben oder ermordet. Im Süden halten die Kämpfe an. Es passieren täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von den marodierenden Milizen ausgehen. Die sudanesische Regierung bestreitet immer noch, dass sie mit den Dschandschawid kooperiert, dabei wissen wir, dass die zum Teil in Regierungsuniformen ankommen und offizielle Militärfahrzeuge nutzen. Ich hoffe, dass Khartum die UN-Resolution erfüllt, aber ich bezweifle es.

Wie kann man den Druck von außen noch verstärken?

Ich habe den Eindruck, dass die Führer in Khartum am meisten Angst vor der Aussicht haben, international angeklagt zu werden. Deswegen versuchen wir, den Sicherheitsrat dazu zu kriegen, eine unabhängige Kommission von Ermittlern im Sudan einzusetzen, die Material über die Gräueltaten sammelt, als Auftakt für ein Verfahren beim Internationalen Strafgerichtshof. Der Sicherheitsrat müsste das Verfahren an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen, weil der Sudan den Vertrag des Internationalen Strafgerichtshofes selbst nicht ratifiziert hat. Es ist allerdings unklar, ob Washington dem zustimmen wird, weil die Bush-Regierung den Strafgerichtshof ablehnt. Aber wir hoffen, dass die Not der Menschen im Sudan für Washington schwerer wiegt als die rein ideologisch motivierte Ablehnung des Gerichts. Darüber hinaus braucht man in jedem Fall internationale Schutztruppen, um den Menschen eine sichere Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. Die dreihundert Soldaten, die die Afrikanische Union einsetzen will, reichen nicht aus. Die Union hat angeboten, 2.000 weitere einzusetzen, was Khartum bisher ablehnt. Auch da muss der Sicherheitsrat Druck machen.

Was hat die UNO denn in ähnlichen Fällen getan?

Ich denke oft an die Rolle, die die UNO in Osttimor spielte, als dort ähnliche Massaker stattfanden und die indonesische Regierung behauptete, sie könne die dort agierenden Milizen nicht kontrollieren. Kofi Annan sagte, in diesem Fall müssten sie internationale Truppen ins Land holen, andernfalls würden sie sich zum Komplizen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit machen. So müsste man jetzt auch mit Khartum umgehen.

Was im Sudan geschieht – ist das Völkermord?

Ich finde die Debatte um diese Frage gefährlich. Selbst wenn es keiner wäre, dann geschehen dort trotzdem in jedem Fall schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und die internationale Staatengemeinschaft hat die absolute Pflicht, die betroffenen Menschen zu schützen – unabhängig davon, ob man dies einen Genozid nennen kann. Diese Frage wird vielleicht in Monaten noch nicht geklärt sein. Ich fürchte, dass genau diese Frage eine Entschuldigung sein wird, um nichts zu tun.

Aber es wird von dieser Frage abhängig gemacht.

Das ist genau das Problem. Die Internationale Gemeinschaft darf das nicht zur Grundlage ihres Handelns machen. Man muss jetzt weitere Massentötungen verhindern, statt sich in Debatten über Formalien zu verlieren.

Die Debatte ist deplatziert?

Nicht nur das. Sie wird von Regierungen benutzt, um nicht eingreifen zu müssen. Man wird erst, nachdem alle tot sind, definitiv feststellen können, ob es nun Völkermord war oder nicht.

Der deutsche Innenminister will Auffanglager für Flüchtlinge direkt in Afrika aufbauen. Können Sie dem folgen?

Das ist nur wieder eine neue Überlegung zur Festung Europa. Aber sie übersieht das Kapazitätsproblem der afrikanischen Staaten. Die Regierungen dort sind nicht in der Lage, den Flüchtlingen dauerhaft sichere Bedingungen zu bieten. Europa hat die Pflicht, die Flüchtlinge nicht zurückzuschicken, solange sie in Afrika nicht davor sicher sind, erneut verfolgt zu werden.

INTERVIEW: CORINNA EDMUNDTS