Museum der Theaterideen

Russischer geht es nicht: Mit „Boris Godunow“, der Geschichte über politischen Mord und falsche Zaren, begannen die Festwochen. Fünf Momentaufnahmen aus der Theaterlandschaft Moskaus

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Bürger, folge deiner Pflicht. Das deutsch-russische Kulturabkommen will abgearbeitet werden. Wenn nicht im Museum, dann im Theater. Zum Beispiel mit dem Programm der Berliner Festwochen: Fünf „Momentaufnahmen aus Moskau“ hat Markus Luchsinger, Kurator für Theater, eingeladen. Zwei davon orientieren sich an der literarischen Klassik, und drei Projekte reagieren eher auf verschrobene Weise und risikofreudig auf den Umbruch der russischen Theaterlandschaft.

Das Theater in Russland steckt in einem Prozess der Kommerzialisierung. Große Häuser sind nicht mehr wie noch in der Sowjetunion durch Traditionsbewusstsein zu füllen. Den Tendenzen zur Konvention und Banalisierung entgegen aber bilden sich kleinere Projekte heraus, die die alte Funktionsweise des Theaters hinterfragen. Das beginnt beim Umgang mit den Räumen. Man kann es schon an den Aufführungsorten erkennen: Parochialkirche, Seitenbühne oder Balkon des Haus der Berliner Festspiele. Die Beziehung zum Publikum wird aufgebrochen und heftigst bearbeitet.

Mit „Boris Godunow“, einem Drama von Puschkin, begann das Programm auf einem Laufsteg in der Parochialkirche. Der Stoff ist so russisch, russischer geht’s kaum: Die Geschichte dreht sich um politischen Mord, Verdrängung der schmutzigen Vergangenheit und Hochstapler, deren Machtanspruch von der Wundergläubigkeit des Volkes gestützt wird. Die Bereitschaft, belogen zu werden, ist der Punkt, an dem die alte Legende sich mit einer Beschreibung der Zustände heute trifft. Seine entscheidende Schlacht gewinnt der falsche Zar mit den Mitteln einer Fernsehshow.

Das Publikum sitzt in der Inszenierung des britischen Regisseur Declan Donnellan auf beiden Seiten des Laufstegs und liest die deutsche Übertitelung über den Köpfen der Zuschauer gegenüber. Wenn „Volk“ auftritt, streunen die Schauspieler zwischen den Kirchenbänken umher. Die Szenen sind flott ineinander geschnitten. Der hohe Kirchenraum reicht als Bühnenbild. Allein diese Verschlankung der theatralischen Mittel wirkt wie eine sehr zahme Neuerung. Viel größer ist das Befremden über den expressiven, deklamatorischen Stil. Auch wenn die Zusammenarbeit mit einem Regisseur aus England schon als Zeichen der Öffnung gewertet wird, so entspricht das Ergebnis doch sehr dem Klischee, das man vom russischen Theater hat. In Moskau, so erzählt Luchsinger, war das Publikum begeistert, den Schulklassiker in Figuren übersetzt zu sehen, wie man sie heute von der politischen Bühne kennt. Das ließ eine ironische Brechung der gegenwärtigen Gelüste der politischen Klasse, sich in die alten Posen der Macht zu kleiden, erwarten. Für nicht russische Augen war solches aber schwer ersichtlich. (Heute und morgen, 21 Uhr, Parochialkirche.)

Auch der Regisseur Kama Ginkas beschäftigt sich noch mit der klassischen Literatur, aber schon nicht mehr in dialogischer Form, sondern in intimere Erzählsituationen umgesetzt. In seinem „Schwarzen Mönch“, (23. + 24. 9., 19 Uhr, Balkon im Haus der Festspiele) nach einem Motiv von Tschechow geht es um die Kraft der Halluzination, die der Wirklichkeit einen Schub verleiht.

Das klassische Theater als einen Ort des Unmöglichen zu beschreiben, an dem sich ästhetische Formen der Vergangenheit mit utopischen Ideen berühren: Diese Perspektive macht das Theater von Maja Krasnopolskaia und Ilja Epelbaum interessant. Sie haben ein Theater als Modell gebaut, fünf Meter hoch, für tausend Zuschauer. Diese Miniatur eines repräsentativen und voll ausgestatteten Apparates wird mit Puppen bespielt, aber nicht mit fertigen Stücken, sondern mit Kurzfassungen von Nicht-zustande-gekommenes-Stück-Ideen, die Theater- und Filmregisseure dem Paar überlassen haben. So entsteht im „Lilican’s museum of theatrical ideas“ (20. 9. um 22 Uhr, 21. + 22. 9., 19 Uhr, Seitenbühne im Haus der Festspiele) nach und nach ein Archiv der Wünsche an das Theater.

Die kritische Überprüfung der Theaterformen überschneidet sich oft mit den Mitteln der Performance. Die radikalste Künstlerin im Festwochen-Programm, Elena Kovylina, kommt denn auch aus der bildenden Kunst und hat in Berlin bei Rebecca Horn studiert. Sie reflektiert oft schmerzhaft, wie sich Politik am Körper niederschlägt. Schon seit einigen Jahren arbeitet sie an einer Überschneidung zwischen karitativen Projekten und der Kunst. In Berlin zeigte sie bereits Videos, die aus der Zusammenarbeit mit jugendlichen Obdachlosen entstanden waren. Deren Zynismus und Kaltblütigkeit sind erschreckend, ihr Posieren und ihre Armut gleichzeitig anrührend. Ihr alltägliches Leben auf dem Bahnhof, meint Kovylina, enthält so viele Elemente einer Aufführung, die das imitiert, was in den Medien als Erfolg gezeigt wird, dass hier die Realität das Theater nachahmt. Sie ist froh, dass die Festwochen ihr als Produzentin ermöglichten, ihr Projekt „Die Vorstellung. Theater der obdachlosen Jugend“ (30. 9.–4. 10.) zu realisieren.

Für die Festwochen ist dieser Russenschwerpunkt, Ergebnis des deutsch-russischen Kulturabkommens, keine leichte Aufgabe gewesen. Denn einerseits stehen sie schon seit längerem in der Kritik, nicht genug Profil zu zeigen. Seit der Bund ihre Finanzierung übernommen hat, wurde dieser Vorwurf von Christina Weiss, der Staatsministerin für Kultur, aufgegriffen. Theater aus Russland lässt sich andererseits nicht mehr, wie noch Anfang der Neunzigerjahre, als neuer Blick nach Osten verkaufen. Aber eines zeigte der Besuch von „Boris Godunow“ deutlich: Viele Russen in Berlin freuten sich über das Theater in ihrer Sprache.