Raus aus dem Statistikgrab

Rund 20.000 Palästinenser leben in Berlin, doch ihre Belange werden von der Politik kaum wahrgenommen. Am Sonntag wollen sich die palästinensischen Organisationen Berlins vereinen – um gemeinsam stärker zu werden

„Oslo klammerte die Flüchtlingsrückkehr völlig aus. Die Menschen hier fühlten sich im Stich gelassen“

„Berlin ist das größte Flüchtlingslager außerhalb des Nahen Ostens“, sagt Mohamed Zaher. Wie groß genau, kann auch der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde Berlin nur schätzen. Er geht von 20.000 bis 25.000 Menschen aus, die zwischen 1970 und Anfang der 90er-Jahre nach Berlin kamen. Die Senatsverwaltung gibt 15.000 an. Offiziell existiert diese Bevölkerungsgruppe gar nicht: Die Palästinenser werden in der Restkategorie „ungeklärt“ geführt oder als Bürger des Libanon oder Jordaniens registriert – die Länder, aus denen sie nach Deutschland geflüchtet sind.

Entsprechend selten schaffen es die Belange der Palästinenser über die Wahrnehmungsschwelle von Politik und Öffentlichkeit. Eine weitere Ursache könnten die Strukturen der Gemeinde sein. Vor 1993 organisierten sich die Palästinenser lediglich in relativ lockeren Studenten-, Arbeiter- oder Wohlfahrtszusammenschlüssen. – Deutschland sollte nur eine Episode sein.

Erst die zunehmende Zahl von Palästinensern, die über Altfallregelungen einen gesicherten Aufenthaltsstatus bekamen, und insbesondere das Osloer Friedensabkommen zwischen Israel und der PLO entfachten die Diskussion über die Notwendigkeit eines Dachvereines – und spaltete die Gemeinde.

Die Palästinensische Gemeinde e. V. unterstützte den Friedensprozess, die Vereinigte Palästinensische Gemeinde lehnte ihn ab. „Oslo klammerte die Frage der Flüchtlingsrückkehr völlig aus. Die Menschen hier fühlten sich im Stich gelassen“, sagt Ahmad Seoud, Vorsitzende der Vereinigten Palästinensischen Gemeinde. Politische Differenzen gibt es nach wie vor, sie sollen nun aber ausgeklammert werden. „Wir haben in den vergangenen Jahren viel gemeinsam organisiert, etwa Demonstrationen“, berichtet Seoud. Auch das Alltagsgeschäft der Vereine, wie kulturelle Veranstaltungen oder das Schlichten von Streitigkeiten, sei das gleiche. Am Sonntag wollen sich die Gemeinden daher offiziell vereinen, ihre Arbeit soll sich künftig auf die Berliner Probleme konzentrieren.

Die meisten davon entstehen in der Familie – wenn traditionelle Einstellungen der im Nahen Osten verwurzelten Eltern mit den Wünschen der in Berlin aufgewachsenen Kinder kollidieren. „Die junge Generation sitzt in einem Wackelstuhl. Sie wissen oft nicht, zu welcher Gesellschaft sie gehören“, sagt Zaher, der als Sozialarbeiter in einem arabischen Jugendclub arbeitet. Außer Haus leben sie in einer Gesellschaft, in der sie ihre Meinung frei äußern können, in den eigenen vier Wänden sollen sie sich der traditionellen Ordnung unterwerfen. „Die Elterngeneration akzeptiert die deutsche Kultur oft nicht. Sie haben Angst, ihre Kinder zu verlieren.“ So wollen sie sie beschützen: keine deutsche Freundin für den Sohn, Kopftuch für die Tochter. Ein Generationenkonflikt wandelt sich so zu einem Kulturkonflikt. „Wir erleben es daher häufig, dass Jugendliche aus ihrem Elternhaus flüchten“, sagt Zaher.

Konflikte auszudiskutieren sei schon deshalb schwer, weil die meisten Kinder das Arabische nur noch ungenügend beherrschen. Die Eltern wiederum haben nie richtig Deutsch gelernt, da sie meinen, es in Berlin mit seiner arabischen Infrastruktur nicht zu brauchen.

Zaher würde diese Situation gerne ändern. Die Angebote der Gemeinden reichten dafür nicht aus. Er fordert vom Senat, dass an Schulen mit mehr als 40 arabischen Kindern entsprechende Sprachkurse angeboten werden. – Doch dafür sei kein Geld da. „Dann schicken die Eltern ihre Söhne und Töchter in die Koranschulen, wo sie den Koran auswendig lernen, aber danach keine Zeitung lesen können.“ Diese Politik der Ignoranz bringe nur Probleme. „Vor kurzem habe ich einen 15-Jährigen gefragt, was er werden möchte. Seine Antwort war: Terrorist.“ Die Jugendlichen seien in Gefahr, meint Zaher, wenn sie keine vernünftige Perspektive bekommen.

Die meisten Palästinenser leben in Neukölln, Mitte und Kreuzberg, ihre Kinder gehen auf Schulen mit hohem Ausländeranteil und machen meist nur einen Hauptschulabschluss. Die Notwendigkeit einer guten Ausbildung werde ihnen zu Hause oft nicht vermittelt, sagt Zaher. „In den Flüchtlingslagern im Libanon besuchte die Elterngeneration die von den UN eingerichteten Schulen. Aufgrund der Restriktionen der libanesischen Regierung bekamen sie jedoch keine oder nur eine geringwertige Berufsausbildung“, erklärt Henning Niederhoff, von 1996 bis 2000 Vertreter der Adenauer-Stiftung in Ramallah. Viele konnten daher im deutschen Arbeitsmarkt niemals Fuß fassen. Eine große Zahl werde darüber hinaus nur geduldet und dürfe nicht arbeiten.

„Berlin ist wahrscheinlich das größte Flüchtlingslager außerhalb des Nahen Ostens“

Leben zwischen zwei Welten: Ohne Arbeit keine Integration. Ohne Job keine Zukunft, nicht einmal in der Heimat. Mohamed Zaher weiß, wovon er spricht. Seit Beginn des Friedensprozesses war er sechs Mal in den Autonomiegebieten, um vorzufühlen, ob er dort leben und arbeiten könnte. Noch ist ihm die Situation zu unsicher. „Sollte es aber einmal möglich sein, bin ich der Erste, der geht“, bekräftigt er.

Die Jüngeren kennen Palästina nur aus den Geschichten ihrer (Groß-)Eltern. Sie stellen sich auf ein Leben in Deutschland ein. Zahers Sohn Gelaal fühlt sich zu Palästina zwar hingezogen: „Ich bin sehr neugierig, das Land irgendwann mal kennen zu lernen“, sagt der 25-jährige Erzieher. Allerdings spricht er weder Arabisch, noch kann er es lesen und schreiben – wie die meisten seiner palästinensischen Freunde hier. „Ich fühle mich mehr als Deutscher denn als Palästinenser.“ Laut Ahmad Seoud denken die meisten so. „Wir haben hier eine Existenz aufgebaut, wir gehören zu dieser Gesellschaft.“

STEFFEN BECKER