„Wir haben unser Leben verloren“

Seit 14 Jahren versucht Fatima Mousa mit ihrer Familie in Berlin zu leben. Seit 14 Jahren findet sie keine Ruhe, denn die Behörden versagen ihr eine Zukunftsperspektive. Ein Kampf gegen die Lasten der Vergangenheit und für die Hoffnung

„Ich versteh’s nicht. Ich arbeite den ganzen Tag – und das zählt dann alles nicht“

von STEFFEN BECKER

Bis zu jener Katastrophe im August 1988 hatte Fatima Mousa (Name v. d. Redaktion geändert) ein gutes Leben. Die fünfköpfige Familie besaß eine Wohnung in der libanesischen Stadt Sidon, war wohlhabend, der Mann hatte eine gute Arbeit und damals auch noch einen Unterkiefer. Jetzt lebt sie in Berlin, doch ihr Aufenthalt ist auch nach fast 14 Jahren nicht endgültig gesichert. Sie hat zwei anstrengende, unattraktive Jobs. Ihr Mann fand bisher gar keinen. Nach unzähligen Operationen besitzt er aber immerhin wieder einen Unterkiefer. Nein, ein gutes Leben hat sie nicht.

1957 wird sie in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon geboren. Eine schlechte Ausgangsposition, doch Fatima hat Glück und kann eine der besseren Schulen der Vereinten Nationen besuchen. Ihr Mann bekommt eine Stelle als Vermessungsingenieur in Libyen, sie selbst arbeitet als Übersetzerin.

1987 kehren sie in den Libanon zurück, damit die Kinder eine gute Privatschule besuchen können. Ihr Mann findet schnell Auftraggeber, darunter auch die PLO. Arafats Organisation plante einen Radiosender, als mediale Waffe im Kampf gegen Israel. Im August 88 schlug der Gegner mit seinen Mitteln zurück. Kampfjets bombardieren das Gebäude, Fatimas Mann verliert das halbe Gesicht und die Familie den Boden unter den Füßen.

Für die Behandlung in Beirut müssen sie Bürgerkriegsgebiet durchqueren. „Wir hatten wahnsinnige Angst“, erzählt Fatima. Sie verkaufen ihr Haus, um nach Kanada zu fliegen. Doch im bulgarischen Sofia ist für die Familie Endstation, da nur ihr Mann ein Visum bekommt.

Zum ersten Mal dachte Fatima an Deutschland. Einige Verwandte lebten dort, womöglich könnten sie dort Hilfe bekommen. Ihrer Mutter schickte 4.500 Dollar und diese „organisierte“ ein DDR-Visum – in der turbulenten Zeit nach dem Mauerfall kein seltener Vorgang.

Willkommen waren Fatima und ihre Angehörigen nicht. Leben in schmutzigen Zwangsunterkünften, eine Behörde, die einen Teil der Familie verschicken will, Anstehen in winterlicher Kälte vor der zuständigen Zentralstelle, hochschwanger und kein Wort Deutsch sprechend. Ihr Mann benötigt jahrelange Behandlung, das Asylverfahren zieht sich hin, wird schließlich abgelehnt und die Familie wird nur noch geduldet, weil der Libanon Palästinenser nicht zurücknimmt.

„Mein Mann und ich, wir haben unser Leben verloren“, sagt sie, greift zum Taschentuch und tupft sich die Augen. Nur ein kurzer Moment, dann hat sie sich wieder gefangen. Schwäche kann sie sich nicht leisten, sie hat vier Kinder zu versorgen. In deren Zukunft investiert sie all ihre Kraft, bringt ihnen schon früh Englisch bei und treibt sie an, dass sie einen möglichst guten Schulabschluss machen.

Seit 1994 lebt die Familie in einer Wohnung, die ihnen eine Kirchengemeinde untervermietet. In einer deutschen Umgebung, das war Fatima wichtig. Wegen der Kinder, die so die Sprache besser beherrschen, und auch besser für sie. Denn zum Teil hat die palästinensische Gemeinde immer noch Probleme, selbstständige Frauen mit Verantwortung als normal zu empfinden.

„Die Exilgemeinde versucht sich und ganz besonders ihre weiblichen Mitglieder vor einem deutschen Lebensstil zu schützen, weil sie ihn als Bedrohung für ihre eigenen Werte und Normen ansieht“, sagt Fadia Foda, die eine Studie zur Lage palästinensischer Frauen mitverfasste und Fatima Mousa gut kennt. Da Palästinenserinnen Deutsche oft nur vom Einkaufen kennen, können sie sich diesem Druck nicht entziehen. Fatima ist eine Ausnahme. Sie hat deutsche Freundinnen und ist auf das soziale Netzwerk der Gemeinde weniger angewiesen. Sie kann es sich leisten, gelegentliche Bemerkungen zu übergehen.

Weiteren Ballast könnte sie auch schwer verkraften. Seit 2001 trägt die zierliche Frau noch mehr Verantwortung auf ihren Schultern. Unter großen Schwierigkeiten bekam sie eine Arbeitserlaubnis und eine sechsmonatige Aufenthaltsbefugnis. Gelingt es ihr, innerhalb dieser Zeit das Einkommen der Familie über eine bestimmte Grenze zu heben, bekommen alle eine befristete Aufenthaltsbefugnis.

Fatima schafft es, findet Arbeit in einem Kindergarten und in einem Krankenhaus. Ihre Tätigkeiten verrät sie nur ungern – „Essen verteilen und solche Dinge“. Es ist ihr unangenehm, denn ihre Ausbildung qualifiziert sie eigentlich für bessere Arbeit. Aber was hat sie schon für Möglichkeiten? Der Ehemann ist zu 70 Prozent behindert und findet daher keine Beschäftigung, und an dem Geld, das sie verdient, hängt ihre Existenz in Deutschland. Nach über zehn Jahren Arbeitsverbot war es schon schwer genug, überhaupt etwas zu finden.

Sie beklagt sich nicht und schiebt beiseite, dass die langen Arbeitszeiten und die anstrengenden Tätigkeiten ihr als Zuckerkranker nicht gut tun. Die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde bestand zunächst darauf, dass auch ihre erwachsenen Kinder voll arbeiten. Doch zwei Söhne wollen nächstes Jahr Abitur machen, eine Tochter geht in die 12. Klasse. Sie wollen die Schule nicht abbrechen – und ihre Mutter würde es nicht zulassen.

Eine Aufenthaltsbefugnis berechtigt weder zum Bezug von Kindergeld, noch könnten die Kinder Bafög für ein Studium in Anspruch nehmen. Mit dem Gehalt von Fatima und den Nebenjobs ihrer Kinder kommen sie kaum zu mehr Geld als zuvor mit Sozialhilfe. Es ist ein Teufelskreis, denn ohne ein höheres Einkommen kann die im Oktober auslaufende Aufenthaltsbefugnis nicht in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden.

„Ich verstehe das nicht, ich arbeite den ganzen Tag, wir fallen dem Staat nicht zur Last, und das zählt dann alles nicht“, sagt sie. Noch eine Frist, weitere zwei Jahre warten, ohne zu wissen, was aus der Familie wird. „Seit 14 Jahren haben wir keine Ruhe mehr.“ 14 Jahre in einem Land, zu dem es aufgrund der hier verwurzelten Kinder keine Alternative mehr gibt, dessen Behörden die Familie aber nicht endgültig akzeptieren. „Das macht die Menschen kaputt“, sagt Fatima Mousa und tupft sich ein weiteres Mal die Augen.