Die Erschöpfung der Eliten

Die Leistungsträger sind gestresst. Sie arbeiten zu viel. Die Ratgeberliteratur boomt – die Ratlosigkeit auch. Zeit, sich an einen alten Spruch zu erinnern: Das Private ist politisch

Gleichzeitig rumort der Neid auf die Arbeitslosen. Er ist so tabuisiert wie die Erschöpfung

Eigentlich haben sie es geschafft. Sie haben fast alles erreicht, wovon sie träumten. Das Studium hat Spaß gemacht, ihr Fachwissen wird gebraucht. Sie verdienen gut, langweilen sich nicht in ihren Büros, werden gefordert. Man könnte sagen: Sie nehmen daran teil, diese Republik zu gestalten, zu verwalten oder zu analysieren. Sie gehören zum erweiterten Management. Eltern und Freunde sind durchaus beeindruckt von ihrer Karriere.

Doch was so schön sein sollte, ist nicht schön. Der Redenschreiber eines Ministers sagt am Telefon: „Auf den Job könnte ich verzichten.“ Er wünscht sich mehr Zeit für sich: „Ich will auch leben!“ Offensichtlich ist ein Beruf kein Leben mehr, der täglich Überstunden fordert. Aber er traut sich nicht, ein Sabbatical zu beantragen, obwohl er es sich leisten könnte. Doch dann müsste ja „sein Team“ ein Jahr lang seine Arbeit miterledigen.

Eine Kollegin, erfolgreiche Journalistin bei einer bedeutenden Tageszeitung, träumt längst von einem Ökohof fernab vom Nachrichtengetriebe in Berlin. Doch reicht die Zeit nicht einmal, um für ein Wochenende aufs Land zu reisen. Auf ihrem Überstundenkonto hat sich ein Guthaben von hundert freien Tagen angesammelt.

Eine Freund, Architekt, sitzt jeden Morgen um acht Uhr im Büro. Er wünscht sich, wenigstens zweimal in der Woche um fünf Uhr zu gehen. Aber er sieht keinen Weg, wie er seinen Chef überzeugen könnte.

Alle drei sind zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt und arbeiten seit über zehn Jahren. Sie alle haben sich im Beruf etabliert, aber sie sehen auch die Grenzen ihrer Karriere. Sie werden nicht Minister, Chefredakteur oder Stararchitekt werden, sondern die wohldotierten und geschätzten Assistenten bleiben. Sie haben viel, aber eben auch schon das Mögliche erreicht. Sie sind die zweite Etage der viel zitierten „Leistungselite“. Und man hat den Eindruck: Diese Elite ist frustriert, vor allem aber ist sie sehr, sehr erschöpft.

Diese Erschöpfung wird kaum je offen thematisiert. Sie bleibt ein peinliches Geständnis unter Freunden. Erschöpfung wird in Europa nur einer Gruppe von Erwachsenen zugestanden: den berufstätigen Müttern. Aus der Darstellung ihrer Erschöpfung lassen sich sogar amüsante Bestseller machen. So hat die englische Journalisten Allison Pearson die Rechte an ihrem Erstling bereits in 27 Länder und an Hollywood verkauft. Romanheldin Kate Reddy ist eine Fondsmanagerin in der Londoner City, die zwei kleine Kinder hat und manchmal so müde ist, „dass sie sich wünscht, ein Bodydouble könne für sie unter die Dusche gehen“ (Die Zeit vom 11. 9.).

Es ist jedoch Fiktion anzunehmen, dass Fondsmanager nur erschöpft sind, wenn sie zusätzlich Mütter sind und nicht gelassen übersehen können, dass zu Hause kein Klopapier mehr vorhanden ist. Die Erschöpfung grassiert auch ohne Kinder. Aber das ist dann nicht mehr chic und amüsant, sondern nur noch ein Mitleid erregender Fall für die Medizin – und für statistische Erhebungen.

So verursachen psychische Arbeitsbelastungen in Deutschland jährliche Gesamtkosten von mindestens 24,5 Milliarden Euro, wie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ermittelte. Und die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz fand heraus, dass fast jeder dritte Beschäftigte in der EU unter arbeitsbedingtem Stress leidet.

Es sind also keineswegs nur die Eliten, die sich erschöpfen. Die Arbeit nagt an allen, auch an Polizisten, Verwaltungsangestellten, Kassiererinnen. Sie alle sind dem Druck ausgesetzt, den ein jährlicher Produktivitätsfortschritt von etwa 2 Prozent bedeutet. Dieses Minimaxprinzip – immer mehr Leistung mit immer weniger Leuten – wird nicht nur durch die Bit-Magie der Computer ermöglicht. Auch die Menschen müssen stets schneller schalten und rotieren. Für die Eliten im zweiten Rang ist dies jedoch ein Schock. Sie dachten, sie könnten sich irgendwann entziehen. Am besten durch den Aufstieg in die Chefetage. „Delegieren“ hieß der hübsche Vorsatz, stattdessen wandern immer höhere Aktenberge über den eigenen Schreibtisch.

Bisher gibt es darauf nur private Antworten. Beliebt sind Coaching-Seminare, wo man lernt, sich „abzugrenzen“. Unbegrenzt ist jedenfalls die Ratgeberliteratur, die mehr „Stresskompetenz“ verspricht. Allein der Begriff „Zeitmanagement“ erbringt 290 Treffer beim Internetbuchhändler Amazon.

Am Ende von Pearsons Roman kündigt die überlastete Fondsmanagerin Kate Reddy, und auch in der Realität sind manche so angstfrei, dass ihnen die Flucht gelingt. Sie können damit leben, dass ihre Einnahmen schwanken und niemals für einen neuen Golf V reichen werden. Also geben sie Yogakurse oder Gesangsunterricht, schreiben für Fan-Magazine der diversen Richtungen oder jobben mehrsprachig am Hotelempfang. Manche wandern auch in die Sozialsysteme anderer EU-Staaten aus und profitieren zum Beispiel von der Negativen Einkommensteuer in Großbritannien.

Aber diese Fluchten in die kreative Randexistenz sind selten, die meisten emigrieren innerlich, in die ganz private Frustration. Sie wird zum dominanten Thema im Freundeskreis. Das kann so erschreckend sein, dass der Redenschreiber auf Partys fordert: „Das Private muss wieder politisch werden!“ Er würde sich wünschen, dass sich jeder traut, gegen die eigene Erschöpfung offen zu protestieren. Doch dies würde ja bedeuten, sich nicht mehr zu fürchten. Nicht mehr vor den Chefs, nicht mehr vor den Kollegen, nicht mehr vor dem ehrgeizigen Nachwuchs.

Die Erschöpfung der „Leistungselite“ bleibt ein peinliches Geständnis unter Freunden

Gleichzeitig rumort der Neid. Er ist so tabuisiert wie die Erschöpfung: Es ist der Neid auf die Arbeitslosen. In der Fantasie der Leistungseliten sind sie „faul“ und genießen ihr Leben. Das ist durchaus ironisch, denn umgekehrt sind die Arbeitslosen neidisch auf das erweiterte Management – und genauso im Stress.

Erschöpfte Arbeitslose – das ist erklärungsbedürftig, denn die Vorurteile halten sich hartnäckig. So ist es eine fixe Idee, die Hartz-Reformen sind das jüngste Beispiel, das Erwerbslose dringend „zu fordern“ seien, weil sie sich sonst wie faule Bären in der Sonne räkeln würden. Es irritiert nicht, dass zahllose Untersuchungen nachgewiesen haben, dass die allermeisten Erwerbslosen gern arbeiten würden. Selbst ein nur geringer Abstand zwischen der Sozialhilfe und ihrem Lohn schreckt sie nicht, einen Job anzunehmen. Wie unglücklich viele Arbeitslose sind, zeigt sich auch physisch: Keine andere Bevölkerungsgruppe produziert so viele Stresshormone; gerade Langzeitarbeitslose sind hoch gefährdet, einem Herzinfarkt zu erliegen. Aber auch sie machen ihre Frustration mit sich selbst und privat aus.

Eliten und Erwerbslose sind sich ähnlicher, als sie glauben. Sie sind gestresst, frustriert und neidisch – weil die einen zu viel haben, was den anderen fehlt. Arbeit. Die Debatten um die Hartz-Reformen könnten deutlich interessanter werden, wenn beide Gruppen diesen angeblich unmodischen Satz für sich entdeckten: Das Private ist politisch.

ULRIKE HERRMANN