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: Im Zirkus

Als Kind bin ich gerne in den Zirkus gegangen. Besonders mochte ich die Artisten, wie sie in halsbrecherischer Höhe erstaunlich elegant umherschwangen. Ich mochte die Löwen und Tiger, die im Zirkus Busch oder Circus Krone tatsächlich gefährlich wirkten, und die geheimnisvolle Wagenburg, die wir Kinder in der Pause inspizieren durften. Mit etwas Glück konnte man sogar hinter die Gardinen gucken und sich ganz gut vorstellen, wie es sich ohne Schule als Nomade leben würde.

Fünfundzwanzig Jahre später bin ich mit den eigenen Kindern natürlich auch in den Zirkus gegangen. Wir sahen elfjährige, lolitahaft zurechtgemachte Mädchen, die sich so schlangenhaft verbogen, als wären ihre Gelenke und Sehnen aus Gummi, und heruntergekommene Clowns, die mithilfe riesiger Büstenhalter anzügliche Witze machten. Traurige, billige Veranstaltungen, die kein Kind zum Lachen oder Staunen brachten. Zirkus jenseits von Roncalli? Wir haben es jahrelang immer wieder versucht und schließlich doch aufgegeben. Denn auch die geglückteren Vorstellungen renommierterer Zirkusse waren alles andere als Selbstgänger. Medienerfahren, wie sie sind, können Kinder und erst recht Jugendliche ein ganz schön kritisches und anspruchsvolles Publikum sein, und diesen hohen Ansprüchen wurden die meisten denn doch nicht gerecht.

Und so frage ich mich, mit welchen Gefühlen sie wohl die für mich so herzergreifende Lebensgeschichte von Sioma Zubicky lesen würden. Sioma Zubicky wurde 1926 als Kind jüdisch-russischer Artisten im Zirkus Busch geboren. Ein echtes Zirkuskind, wie man so sagt, das durch ganz Europa zog und spielend Russisch, Deutsch, Tschechisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch lernte, ohne auch nur einen Hauch von Ahnung zu haben, was Grammatik ist. Zum Artisten allerdings taugte Sioma nicht. Stattdessen machte er schon als Zehnjähriger auf dem Xylophon Karriere. Ein musikalisches Wunderkind, das zwar keine Note lesen konnte, aber mit Edith Piaf, Josephine Baker, Maurice Chevalier und Jacques Tati auftrat und so seine Familie finanziell durchbrachte.

Was Sioma Zubicky vom Zirkusleben und seinen Auftritten in Pariser Bars erzählt, ist ernüchternd und herausfordernd zugleich: eine Welt zwischen Kindsdressur und schier atemberaubender Freiheit. Doch kaum hatte diese Geschichte richtig begonnen, war sie auch schon fast zu Ende. Denn je weiter die Nazis in Europa vordrangen, desto enger wurde es für die Artisten und Musiker. Schnell, viel zu schnell, ist aus der Zirkus- eine Flüchtlingsgeschichte geworden. Anfangs spielte Sioma noch für die deutschen Besatzer in Frankreich, Belgien und Holland, doch bald begann sein Vater, für den französischen Widerstand zu spionieren. Das letzte Drittel des Buches spielt dann in Auschwitz und Dachau. In derselben ungestelzten Sprache erzählt Siona Zubicky nun von der Zugfahrt ins Lager, vom Abtransport seiner Mutter und seines Bruders in die Gaskammer, von Hungerrationen und Läusen, von Schlägen und Massengräbern, von all den viehischen Dingen eben, die man von anderen schon oft so ähnlich gelesen hat und die einem trotzdem wieder und wieder an die Nieren gehen.

Man kann nun nicht gerade sagen, dass Zubicky ein literarisches Meisterwerk geschrieben hat. Aber wenn dieser abgedroschene und missbrauchte Begriff des Authentischen einen Sinn hat, dann hier. Das ist echt!, fühlt man bei jedem Satz. Und so kommt man auch nicht auf die Idee, die Nase zu rümpfen über das Pathos, mit dem Zubicky seine Lehren aus dem Erlebten zieht: „Es gibt nur eine Rasse – den Menschen! Es gibt nur eine Religion – die Liebe! Es gibt nur eine Welt. Oder überhaupt keine Welt!“

So beendet Sioma Zubicky sein Buch. Und man nimmt ihm diese Schlichtheit nicht mal übel. ANGELIKA OHLAND

Sioma Zubicky: „Spiel, Zirkuskind, spiel“. Erinnerungen eines europäischen Wunderkindes. Altberliner Verlag, Frankfurt, Leipzig, München 2004, 136 Seiten, 12,90 Euro