Das etwas andere Stadtgebiet

So passiert’s, wenn man vom Sozialismus träumt: Abends in die Coconut Oase und eine flotte Pall Mall vom Vietnamesen rauchen. Hellersdorf sucht Mieter für das Projekt Wohlfühlwohnen, hat aber leider kratzige Stromkästen. Ein Selbstversuch

Im Traum versuchte ich am Bahnhof Friedrichstraße in die DDR einzureisen

VON ANDREAS BECKER

Kann man heute noch vom Sozialismus träumen? Mir ist das unlängst passiert. Ich sah nette Menschen mit Strubbelhaaren und Schlabberpullovern auf einer Dachterrasse auf einem Plattenbau sitzen, rundrum war es grün, sie tranken DDR-Bier, hatten keine echten Sorgen – aber man kam nicht an sie ran. Denn mein Traum war knallhart realistisch. Um die kleine DDR-Enklave herum stand ein hoher Zaun. So versuchte ich also am Bahnhof Friedrichstraße mit meinem Rad in die DDR einzureisen – obwohl mir im Traum bewusst war, dass es eigentlich keine DDR mehr geben konnte, weil die sich irgendwie selbst abgeschafft hatte. Die Grenzer hinter der Schlange „Bürger Westberlin“, bürokratisch wie immer, wiesen mich ab. „Mit Rad keine Einreise. Nächster!“

Weil man seinen Träumen folgen soll, fuhr ich einige Tage später Richtung Hellersdorf. Mit Rad in der S-Bahn. Eigentlich wollte ich am Bahnhof Wuhletal in die U-Bahn umsteigen. Von der S- in die U-Bahn an einem Bahnhof umsteigen zu können ist Sozialismus pur. Das hätte sich im Westen keiner ausgedacht. (Noch heute, wo sich BVG und S-Bahn immer wieder um Tariflappalien derbe streiten, ist dieser Bahnhof ein Unikum.) Ich fuhr aber durch, denn im Traum war ich irgendwie von hinten an die Mini-DDR geraten. Also Kaulsdorf, fast ländlich, keiner spricht, den Mädchen vor mir auf der Treppe rutschen die Strings richtig schön hoch über die Hosen, bis zu ihren eintätowierten Arschgeweihen – so nennen die Tätomacher die Steißbeinverzierungen verächtlich. Erst mal zum Kiosk, nach Jahren mal wieder konkret kaufen. Kommunist Gremlizas Kolumne heißt: Rettet den Kapitalismus! Oh Gott, so schnell kann man aus den Systemzusammenhängen kippen. Geh ich lieber noch rüber zur Sparkasse, Westgeld ziehen.

In Kaulsdorf lauter rausgeputzte Einfamilienhäuser, wenigstens vereinzelte Betonplattenstraßen haben sie noch. Ein typischer Stasirentner trägt diese gräulichen DDR-Slipper, die viele kurz vor der Währungsunion noch auf Vorrat im Centrum Kaufhaus gekauft haben. Endlich Hochhäuser. Und eine Wiese ohne Hundekacke davor. Pause, die Leute gucken komisch, weil man in ihrer Wiese liegt und die Balkons gegenüber auf Lebenszeichen absucht. Die alten Betonplatten stehen nicht mehr richtig im Lot, werden wohl irgendwann einfach nach vorn fallen. Das oberste von sechs Geschossen ist aus rötlichem Waschbeton. Hatten sie wohl nicht genug graue Steine in der Mangelzonenwirtschaft, denkt man. Bis man nach ein paar Stunden Hellersdorf überall dieses Phänomen bemerkt. Sogar bei der Sanierung und Trivial-Verpoppung der Fassaden hat man am bunten Obergeschoss festgehalten. Gremliza, antideutsch as usual: „Im Manifest verteidigen Marx und Engels die Bourgeoisie gegen den deutschen oder wahren Sozialismus. Vor einem Volk, das aus der Kälte des Marktes bei jeder Gelegenheit in den Mief der Volksgemeinschaftsküche …“ Mann, warum kommt jetzt nicht der erste Lonsdale Idiot an der deutschen Wiese vorbei und sagt: „Hau ab nach Kreuzberg, Zecke!“ Stattdessen Langeweile und Hunger. Also zum Netto und Edeka Neukauf Center hinterm Hochhaus.

Endlich Menschen! Sie schließen ihre Wagen fest ab, reißen das Kind am Arm in den schmalen Eingang an den Vietnamesen von der Zigarettenmafia vorbei ins Center. Hinterherlaufen, Kaffee holen und heimlich recherchieren. Wie ist Hellersdorf denn so, fragt man die Frau am Bäckerstand. Weiß ich auch nicht, sagt sie, bin nicht von hier. Am schwarzen Brett bietet jemand für 80 Euro Papageien an, „aber nur im Paar“. Draußen auf dem kleinen Stromkasten packt man den Pflaumenkuchen aus. Lehnt sich mit dem Arm auf den Kunststoffkasten und beobachtet den Centereingang. Die Vietnamesen verkaufen einem ziemlich fertigen Hellersdorfer, der mit Nettoschnapspulle an ihnen vorbeitorkelt sogar eine Einzelpackung. Dann kauft eine Hausfrau gleich zwei Stangen und geht zu ihrem BMW. Elende Steuerbetrüger denke ich noch, entschließe mich dann aber selbst ins Geschäft einzusteigen, weil mir einfällt, dass meine Kippen aus Riga (1 Euro pro Schachtel – so viel wie nur eine Stunde Arbeitsdienst nach Hartz IV) bald alle sind. Die Schwarzhändler haben nur Pall Mall und L&M. Habt ihr denn nicht mal Marlboro? Hellersdorfer kaufen also auch illegal lieber Billigkippen. Starkes Verelendungszeichen, notiere ich.

Dann fängt mein Arm an zu jucken. Was ist mit diesem Stromkasten los? Meiner in Kreuzberg, auf dem sitzend ich morgens gern die Kreuzung beobachte, ist sowieso viel größer und schöner, und er kratzt nicht. Als ich den Hellersdorfer Kunststoff genauer analysiere, fallen mir die kleinen glänzenden Späne auf. Der Kasten ist, um Faulenzer und Plakatkleber abzuschrecken, mit Glaswolle versetzt – das Zeug, das früher in Dachisolierungswolle steckte und einem beim Einbau in den Nacken rieselte und ewig juckte. Hellerdorf beginnt zu nerven. Und wieso heißt die Kneipe mit der Plastikpalme neben Netto eigentlich Coconut Oase?

Schlecht gelaunt rase ich mit dem Rad eine Riesenstraße entlang, die sich Riesaer nennt. Merkwürdigerweise fahren hier dieselben Straßenbahnen wie in Berlin. Bei der ersten ist man richtig geschockt, weil einem klar wird, dass man ja gar nicht weit weg ist, sondern es irgendwo eine Verbindung „in die Stadt“ geben muss.

Um mich zu rächen, gehe ich ins Büro einer Wohnungsbaugesellschaft, die mit großen grünen Schildern „Es lebe der Sparwahnsinn. 3 Zi 69 qm mit Loggia statt 338 nur noch 320 zzgl. NK“ Mieter sucht. Zwei gelangweilte junge Frauen, die schnell von ihren Schreibtischkanten springen, als ich reinkomme, geben mir Infomaterial. In einem „Wohlfühlheft“ steht: „Wohnen. Wohlfühlen. Wohnpark. Zum Wohlfühlen gehört mehr als ein schöne Wohnung“. – „Sie glauben doch nicht, dass ich 400 Euro oder mehr bleche für eine Wohnung in dieser Pampa“, sage ich zu den Frauen. Die tun überrascht. „Pampa? Wir brauchen nur eine halbe Stunde in die Innenstadt.“ – „Hah“, sage ich, „schön blöd, ich wohn schon in der Innenstadt.“ Die eine trägt eine typische Ossijeans, sie wohnt schon ewig hier. „Toll, diese Ostalgie hier“, sage ich. „Und in Kreuzberg ist es euch zu dreckig und die Ausländer stören, oder? Und abends geht ihr in die Coconut Oase!“ Nein, da gehen wir nie hin, sagen die Frauen und kucken entsetzt. Ich flüchte mit dem Beweismaterial und rufe vom Rad aus: „Und eure Stromkästen sind auch Scheiße!“