Beiläufiger Tod, egal wo

Brüchige Konventionen in einer Gesellschaft, die an nichts mehr glaubt: Michael Talke inszeniert Lessings „Emilia Galotti“ am Thalia Theater

von KARIN LIEBE

Sie trinken Gin Tonic und koksen. Sie ziehen durch die Clubs und reißen ein „blondes Hungerhäkchen“ auf. Sie treffen auf die eifersüchtige Ex des einen, saufen zu viert Wodka und koksen. Dann vögeln sie paarweise. Und das Hungerhäkchen, Cinderella genannt, versucht später, sich mit einem Medikamentencocktail zu vergiften. Eine Geschichte von heute. Verfasst von Tina Uebel, veröffentlicht im Programmheft zu Emilia Galotti. Die Hamburger Autorin beamt dekadenten Adel und brüchiges Bürgertum in eine gleichgültige, zynische Clubkultur.

Auf der Bühne des Thalia Theaters geht Regisseur Michael Talke mit Lessings Trauerspiel, das jetzt Premiere hatte, andere Wege. Konventionell bis konservativ wirken sie zunächst, mit Einblendungen von Originalzitaten fast wie eine didaktische Veranstaltung. Doch der erste Eindruck täuscht. Gelehrt wird hier gar nichts. Denn es gibt keine Wahrheiten mehr. Die Menschen glauben an nichts und tun das Gegenteil von dem, was sie sagen.

Auf einer großen weißen Freitreppe frühstücken der Prinz (Thomas Schmauser) und sein Kammerherr Marinelli (Felix Knopp). Keinen Gin Tonic, kein Koks. Dafür Kaffee und Croissants. Aber wie: Der Kaffee spritzt nur so über die schicken Hemden, beide sprechen mit vollem Mund und tunken die Croissants heftig in den Kaffee. Sitzen hier zwei Freunde oder Herr und Diener zusammen? Jedenfalls zwei, die aufeinander angewiesen sind, denn der Prinz braucht dringend Hilfe. Er ist verliebt in Emilia Galotti, die am selben Tag einen anderen heiraten soll. Marinelli will ihm helfen. Nicht aus Nächstenliebe, sondern weil er den Bräutigam in spe hasst.

In einen seltsamen Tanz lässt Talke alle Figuren treten. Wenn sich die Bühne zum ersten Mal dreht und Marinelli die Welt des Adels verlässt und auf der anderen Seite des Runds die zwillingshaft gleiche weiße Freitreppe hinuntergeht in die Wohnstube der Galottis, schnappt er sich die Mutter (Sandra Flubacher), die wie ihre übrige Familie wie festgefroren am Tisch sitzt, und dreht mit ihr ein paar Runden. Später küsst Mutter Galotti pflichtbewusst ihren Mann, den Markwart Müller-Elmau im Rautenpullover als braven Familienspießer gibt. Und noch später, wenn der Bräutigam aus dem Weg geschafft ist und sich alle im Lustschloss des Prinzen versammeln, schwenkt Marinelli Emilia Galottis Mutter noch einmal im Kreis herum. Diesmal drängt sie sich eng an ihn und schiebt ihr Knie zwischen seine Beine. Ein erotischer Tanz, bei dem beide so miteinander reden, als säßen sie einander gesittet gegenüber.

Talke lässt das Unterdrückte hinter den Konventionen sichtbar werden. Die aggressiven oder erotischen Wünsche platzen immer wieder unvermittelt heraus. Marinelli röhrt plötzlich wie ein verletzter Hirsch, brüllt wortlos seinen Zorn heraus. Nur Anna Blomeier als Emilia Galotti bleibt beherrscht. Ein Mädchen, das noch nicht weiß, was sie will.

Ganz anders Natali Seelig als verflossene Geliebte des Prinzen. Getroffen von dessen Gleichgültigkeit, kann sie in einem brillanten Auftritt Schwäche und Stärke zugleich zeigen. Wenn sie Galotti Messer und Pistole und Giftfläschchen in die Taschen steckt, er sie wieder herauszieht, sie ihm die Mordinstrumente wieder zusteckt und das ein paar Mal hin und her geht, ist das auch ein Tanz zwischen Anziehung und Abstoßung. Eine kreisförmige Bewegung, die damit endet, dass Emilias Vater die Pistole behält.

Das Ende ist wie bei Lessing. Emilia ist tot. Doch kein Schuss ist gefallen. Es ist eben so passiert. So, wie sich zufällig des Prinzen Liebe von einer zur anderen gewandelt hat. So, wie man säuft oder kokst oder sich oder jemand anders umbringt. Ratlos ist man nach diesem beiläufigen Tod. Und es ist völlig egal, ob er auf einer Freitreppe oder im Klo eines Szeneclubs stattfindet. Die Ratlosigkeit ist überall.

nächste Aufführungen: 24.9., 20 Uhr sowie 27.9., 15 Uhr, Thalia Theater