Wild ist, was gefällt

Das Bremer Tanztheater beweist sich mit den Arbeiten seiner Jungen Choreografen einmal mehr als ein Kreativen-Pool, dessen prickelnde Vielfalt sich zum sinnvollen Spannungsbogen bündeln lässt

Reigen von infantiler Zärtlichkeit zu zerstörerischer Kopulation

Wärest du doch still geblieben! Auf der anderen Seite: Die nur scheinbare Versöhnlichkeit von Alessandra Cortis „Happy End“ ist gespickt mit Widerhaken, hintergründig komisch und auf eine feine Art boshaft. Das wird jeder merken, der sich diese Arbeit ansieht, eine von acht junger Choreografen des Bremer Theaters, die unter dem Sammeltitel „Wilde Blüten“ am Freitag im Concordia ihre Uraufführung erlebten. Die Schlusspointe von „Happy End“ jedenfalls würde ohne diesen internen Bruch nicht funktionieren.

Und die Pointe entschädigt dafür, dass die Tänzerin die Radikalität des regungslosen Beginns ihres Solos nicht durchhält. Irgendwann erhebt sie sich dann doch vom Stuhl und führt schwungvoll runde Bewegungen aus – synchron, aber spiegelverkehrt, zu ihrer eigenen, im Video festgehaltenen, Darbietung. Diese, ein räkelnder, in sich gekehrter Tanz in einer kleinen Wohnung, projiziert ein Beamer auf eine große Leinwand mitten im Raum.

Anfangs aber, und das heißt: Die gute erste Hälfte des Stücks, hatte Corti – leibhaftig – lediglich davor gesessen, auf einem simplen Holzstuhl, den Rücken zum Publikum. Den rechten Fuß ein wenig ans Stuhlbein gepresst, auf die Spitze, wieder zurück – sonst nichts. Mini-Bewegungen, die genau genommen nur das Stillsitzen – dieHöchststrafe für Bewegungssüchtige – noch verdeutlichen, die Spannung noch lastender machen: Regungslosigkeit, wo große Sprünge erwartet werden, versunkene Selbstbetrachtung von einem Punkt jenseits des Endes.

Ist das wild? Andere Choreografien erfüllen das Versprechen des Obertitels offensichtlicher. Geradezu wüst: „ameisen in mir“ von Josep Caballero-Garcia. Mit der auch mimisch hinreißenden Ríonach Ní Néill begibt er sich in einen rasanten Reigen zwischen halb-debiler Annäherung über zerstörerische Kopulation bis zurück zu infantiler Zärtlichkeit. Das ist sexy, komisch – und manchmal erschreckend. Ein furioser Schlusspunkt. Begonnen hatte der Abend mit eher hektische Beweglichkeit, präsentiert von Magali Sander Fett. „Cabine“, so der Name, ist ein buntes Spektakel. Spielfreude: Extrem. Doch das Ganze erschöpft sich letztlich in einem tänzerisch gelungenen Slapstick, vergnüglich, mehr nicht: Mann Heiko Büter hascht drei Frauen – neben der Stück-Autorin tanzen Amaya Lubeigt und Alessandra Corti – bis diese sich zusammen schließen und der Jäger zum Gejagten wird. Tatort: Drei Umkleidekabinen. Schnell gesehen, schnell vergessen.

Unvergängliche Choreografien? Das ist nicht Sinn und Anspruch der Veranstaltung. Auch wenn die „ameisen“, die komplexe „Anatomie des Glücks“ von Heiko Büter und vor allem Ní Néills sinnlich-kryptisches Solo „Seandálaíocht, f. (gs.a), Archäologie“ – wie gesagt: kryptisch! – ihn einlösen. Müsst’ schon mit dem Teufel zu gehen, wenn da nicht wieder einer der Choreografen-Wettbewerbe abgestaubt würde.

Viel Wichtiger aber: Urs Dietrichs Compagnie präsentiert sich als ein Pool begeisterter Kreativer, deren Lust am Experimentvon den übrigen Abteilungen des Bremer Theaters kaum egalisiert werden dürfte. Sie verfügt über eine Wundertütenvielfalt, die sich doch an diesem Abend zur dramaturgisch sinnvollen Reihe fügt. Bewegend und spannend von Thomas Büngers höchst artistischem Solo „Hero“ –bis zum happy end.

Benno Schirrmeister

Aufführungen: 24. und 27. September, 2., 4., 8., 11., 16., 18. und 19. Oktober, Concordia, jeweils 20 Uhr