Gefangene der Zeitmaschine

Einst kündeten die Cramps mit ihrem retrospektiven Trash-Rockabilly vom Anbruch der Postmoderne. Ihr Auftritt am Freitag im Kreuzberger SO 36 geriet zum Familientreffen der mit ihnen gealterten Fans

von THOMAS WINKLER

Gut eine Stunde, nachdem die Cramps die Bühne des SO 36 verlassen hatten und sich das Publikum – nach nur einer Zugabe! – widerspruchslos getrollt hatte, sitzt einem in der S-Bahn ein Glatzkopf gegenüber, der konzentriert ein Perry-Rhodan-Heft studiert. Fest umklammert er seine Tasche. Kein einziges Mal blickt er auf. Er ist ganz in seiner eigenen Welt.

Eine Viertelstunde vor Konzertbeginn hatten sich noch die letzten Besucher vor dem ausverkauften SO 36 gestaut. Im Gedränge blitzten Gesichter auf, die man lange, sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Seitdem sind Kinder geboren, feste Arbeitsplätze angenommen und Eigentumswohnungen angezahlt worden. Viele tragen durchgehend Schwarz, manche lassen sich die Koteletten immer noch bis aufs Kinn hinunter stehen, und wieder andere haben ihren Haarschopf zur Feier des Tages kunstvoll zur spitzen Tolle geschoren.

Das Saallicht erlischt. Von hinten stürmen zu klein geratene Frauen heran, stoßen einem rücksichtslos die spitzen Ellbogen in die Seite und blicken einen vorwurfsvoll an, weil man an diesem Tag nicht in der Lage ist, sich in Luft aufzulösen.

Die Cramps entern die Bühne, gehüllt in schwarzen Lack, die Locken von Poison Ivy so prachtvoll rot wie eh und je. „Der Rhythmus kommt von der Gitarre, und der Sänger klingt, als hätte er einen Nervenzusammenbruch“, hat Lux Interior einmal den Sound der frühen Punk-’n’-Roll-Aufnahmen beschrieben, deren seltsame Faszination seine Band stets einzufangen suchte.

Hier und heute schlägt Poison Ivy die dickbauchige Halbakustische an, und diese leicht verlangsamten Rockabilly-Riffs setzen die Zeitmaschine in Gang. Der Rhythmus geht tatsächlich in die Beine, auch wenn der schätzungsweise 37. Trommler in einem Vierteljahrhundert Cramps-Geschichte nicht wirklich was taugt. Lux Interior gibt das, was er am besten kann: den Madman. Er schreit und verschluckt fast das Mikro, und so viel Bier kann man gar nicht trinken, wie man wieder ausschwitzen möchte. „Das ist Rock ’n’ Roll“, sagt jemand. Und nur einmal, dieses eine letzte Mal, scheint alles selbstverständlich, versteht man wieder, stellt sich nicht automatisch die Frage: Was ist Rock ’n’ Roll eigentlich?

Zwei Stunden vorher hatte man noch in der Kreuzberger Markthalle gesessen, Knusperhähnchen mit Krautsalat gegessen und versucht, jemandem, der noch nie von den Cramps gehört hatte, zu erklären, was ihn gleich erwarten würde. Es war komplizierter als angenommen, nur zu beschreiben, wie die Cramps klingen auf ihrer neuen Platte „Fiends of Dope Island“.

Noch schwieriger wurde es zu vermitteln, wie revolutionär, horizonterweiterend, wie retrospektiv und gleichzeitig modern er einmal war – dieser Sound, den man damals Trash nannte. Man erzählte, wie Lux Interior vor mehr als 30 Jahren die Anhalterin Poison Ivy auflas, wie sich zwei Seelenverwandte fanden, die seitdem als Paar ihre gemeinsame Erfüllung im Aufstöbern seltenster Rock-’n’-Roll-Platten aus den Fifties fanden und schließlich ihre Leidenschaft auf die Bühne brachten. „Wir haben immer Platten gesammelt, jetzt machen wir selbst welche“, hat Lux Interior einmal erzählt, als wäre er selbst erstaunt, welche Karrieren aus dem Geist von Punk damals möglich machte.

Man erinnert sich, wie müllige Filme aus den Hinterhöfen Hollywoods als Kunst entdeckt wurden. Erinnert sich, dass Lux und Ivy fast schon archäologische Studien dieser B-Pictures betrieben und dass deren fantasievolle Titel nicht selten die Grundlage für die Texte ihrer Songs bilden sollten. Deren Titel wiederum klangen selbst wie billige Horrorfilme („Creature from the Black Leather Lagoon“) oder ein Streifen von Russ Meyer („Can Your Pussy Do The Dog?“).

Nachmittage auf dem Flohmarkt und Nächte in Psychobilly-Konzerten finden sich wieder im Gedächtnis: Die „Back from the Grave“-Compilations, die obskuren Singles, die wie Schätze gehütet wurden. Man erzählt von Garagenpunk, von Sci-Fi-Filmen in Schwarzweiß mit Raumschiffmodellen, die an doch noch sichtbaren Fäden durchs Bild ruckten. Man denkt daran, wie damals die Postmoderne ausbrach und die Jugendkultur in viele kleine Szenen zerfiel.

Die Helden von Poison Ivys waren „Menschen wie Jayne Mansfield oder Salvador Dalí, die sich selbst zu Königin oder König ihrer eigenen kleinen Welt erklärten“. Fortan war jeder in seiner eigenen Welt. Und eine Zeit lang war die, in der die Cramps regierten, tatsächlich die einzig richtige.

Eine Stunde vor dem Konzert stand man vor der kleinen Galerie rechts neben dem SO 36, wo einige rührige Veteranen, die sich in der ersten Reihe des legendären Auftritts der Cramps 1986 im Metropol kennen gelernt hatten, eine kleine Ausstellung zusammengetragen haben. Seltsame Ölschinken, Zeichnungen und Originalplakate legendärer B-Pictures umreißen die kleine Welt der Cramps, konzentriert auf 18 Quadratmetern. Wer hätte das gedacht damals?