Rächerinnen, zum Sterben bereit

Fast 500 Menschen starben bislang bei Anschlägen tschetschenischer Frauen, der „Schwarzen Witwen“

MOSKAU taz ■ Mutter Bairakowa erinnert sich noch genau an den Tag, als eine unbekannte Frau im Pelz an der Tür klopfte und ihre 26-jährige Tochter Zareta sprechen wollte. Sie gingen ins Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Eine halbe Stunde später bringt Zareta die Fremde zur Bushaltestelle. Kurz darauf klopfen maskierte Männer bei der Familie an. „Wir haben ihre Tochter mitgenommen. Sie heiratet einen unserer Männer“, sagt einer der Maskierten.

Das nächste Mal sehen die Bairakowas Zareta drei Wochen später im Fernsehen. Tschetschenische Separatisten hatten im Herbst 2002 in Moskau das Musical Theater Nord-Ost besetzt und 800 Geiseln genommen. Die Familie erkannte die verschleierte Tochter an ihren unverwechselbaren großen schwarzen Augen. Um den Bauch trug sie einen Sprengstoffgürtel. Zareta starb bei der Befreiungsaktion russischer Sicherheitskräfte.

Die mysteriöse, dunkeläugige Frau im Pelz, die die jungen Frauen angeblich als Selbstmordattentäterinnen rekrutieren soll, wurde bislang nicht gefasst. Dabei halten Anschläge der so genannten Schwarzen Witwen Russland seit vier Jahren in Atem. Auch die Flugzeugkatastrophe diese Woche, bei der 89 Menschen starben, soll auf das Konto tschetschenischer Selbstmordattentäterinnen gehen.

Bei dreizehn Attentaten, die im Laufe der letzten vier Jahre von Schwarzen Witwen verübt wurden, starben fast 500 Menschen. Nach der spektakulären Geiselnahme in Moskau drohte der zum Wahhabismus bekehrte tschetschenische Terrorist Schamil Bassajew im Internet, er werde noch mehr Selbstmordkommandos in russische Städte schicken. In seiner Gruppe „Riadus Salichiin“ seien 36 Frauen zum Sterben bereit.

In Wirklichkeit dürften es weit mehr Frauen sein, die an nichts anderes denken, als für den Tod ihrer Söhne, Männer, Brüder und Väter Rache zu nehmen. Nach fünf Jahren Krieg gibt es kaum eine tschetschenische Familie, die keine Angehörigen verloren hätte. Wären es nur 36 Frauen, die einer Organisation zuzuordnen sind, wäre die Gefahr eingrenzbar. Das Risiko sind Frauen, die sich im stillen Kämmerlein entscheiden. Tschetschenische Männer klagen: „Unsere Frauen haben uns erniedrigt und zeigen, dass wir nichts mehr zählen …“

Der Krieg hat die traditionellen Geschlechterbeziehungen und sozialen Bande zerstört. Der Tschetschene wird von Kindesbeinen zum Schutz von Haus, Hof und Familie erzogen, wofür er bereit sein muss, zu sterben. Der Terror der russischen Truppen und der tschetschenischen Helfeshelfer hat indes dazu geführt, dass der Mann aus dem öffentlichen Leben verschwunden ist. Frauen verstecken ihre Männer, um sie vor Übergriffen zu schützen.

Inzwischen ernähren Frauen die Familie, handeln auf den Märkten und werfen sich vor russische Panzer, die ihre Männer abzutransportieren drohen. In dieser Rolle sind Frauen oftmals radikaler als tschetschenische Männer. Auch wenn sie das nicht zur Schau stellen, da die traditionelle weibliche Erziehung es ihnen nicht gestattet, Gefühle offen zu zeigen. Sie sind mit sich und ihrem Leid ganz allein.

Selbstmordattentate sind Antworten auf Machtlosigkeit gegenüber dem staatlichen Terror. Diese Rächerinnen werden sich Politikerappellen, den Terror aufzugeben, nicht unterwerfen. Sie leben bereits in einer anderen Welt, in der die herkömmlichen sozialen Beziehungen und Subordinationen keine Gültigkeit mehr besitzen. Eine Tschetschenin, die mit dem Adat-Gewohnheitsrecht und dem Islam groß geworden ist, hat mit dem Entschluss zu gewaltsamer Rache bereits den Boden ihrer Kultur verlassen. Es gibt kein Zurück. KLAUS-HELGE DONATH