Sonderzug zwischen Schwellenländern

Gut ein halbes Jahr vor dem EU-Beitritt Polens gleicht die einstmals schnelle Bahnverbindung Berlin–Stettin einer Bummelstrecke. Wer die 160 Jahre alte Trasse fährt, braucht Nerven. Senator Strieder hat sie verloren und sich zu einer Protestfahrt aufgemacht mit dem Ziel, einander näher zu kommen

Täglich pendelt gerade mal ein Zug direkt zwischen den beiden Städten

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Ab Passow ist es ein Kamelritt. Es wippt, schaukelt. Ruckartig wird man mal nach links, dann wieder ganz nach rechts gedrückt. Und dann und wann ein kleiner Halt, bei dem man die Wasserflasche ohne Sorge an den Mund setzen kann. Beim Ritt geht das nicht.

Das Fleckchen Passow liegt in der Uckermark, das Kamel bildet der Schienenbus der Deutschen Bahn, und dass es so ruckelt, ist den mehr als schlechten Gleisen geschuldet, die nach Szczecin (Stettin) führen – der augenblicklichen „Hauptverbindung“ von Berlin in die polnische Großstadt – nur 14 Kilometer hinter der Grenze. 160 Jahre alt ist die Bahnverbindung jetzt und damit einer der ältesten deutschen Schienenverkehrswege überhaupt. Viel Tradition und Bedeutung also, hätten nur Geschichte und Realität nicht so oft sich diesen verweigert – und dies tun sie bis dato weiter.

Obwohl seit dem Fall der Mauer 1989 und den vielen Berliner Bekundungen, die „Badewanne“ Ostsee und den „Berliner Hafen“ Stettin wiederbeleben zu wollen, unendlich viel Wasser die Oder heruntergeflossen ist, hat sich in den letzten Jahren auf der Trasse quer durch Brandenburg kaum etwas verbessert. Die Strecke kommt einem Link zwischen zwei abgehängten Dörfern gleich: Von Berlin nach Angermünde tuckert man noch einigermaßen passabel mit der Regionalbahn. Weiter geht es mit dem nicht gerade dynamischen Schienenbus. Die Strecke ist zum großen Teil nicht elektrifiziert, nur einspurig verlegt, weil angeblich „die Russen“ einstmals das Metall abgebaut haben. Und es holpert obendrein, weil die Gleise ausgeschlagen sind und ihr Unterbau nicht eben fest ist. Was bedeutet, dass Reisende mit rund 50 Stundenkilometern oder weniger in Richtung Polen oder umgekehrt fahren.

Über zweieinhalb Stunden benötigt die Eisenbahn von Berlin nach Stettin, obwohl die Grenzkontrollen fast keine zeitliche Behinderung mehr darstellen. Täglich pendelt gerade mal ein Zug direkt zwischen den rund 140 Kilometer entfernten Metropolen. Wer zu spät kommt, muss in Angermünde umsteigen. Wer weniger Zeit hat, und dies haben ja die meisten, nimmt den eigenen Wagen.

Ein halbes Jahr vor dem EU-Beitritt unseres Nachbarlandes und in der Retrospektive einer 160 Jahre alten Geschichte gibt es nun den erneuten Versuch, den Ost-West-Schienenstrang zum festen Faden zwischen Berlin und der 420.000 Einwohner großen nordwestpolnischen Stadt zu knüpfen. Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) hatte es satt, dass 44 Kilometer zwischen Passow und Stettin auch zukünftig langsam, eingleisig und ohne Oberleitung bleiben sollen, „als handle es sich um eine Verbindung zwischen Schwellenländern“. Aus Anlass des 160. Geburtstags war Strieder darum Ende vergangener Woche nach Stettin gereist – auf Protestfahrt gewissermaßen.

Mit im Gepäck – sozusagen als Geschenk – hatte der Senator zwar die Mitteilung, dass die Deutsche Bahn nach Jahren der Ignoranz die Strecke bis zur deutsch-polnischen Grenze in den „Bundesverkehrswegeplan“ aufgenommen hat. Für den Abschnitt Berlin–Angermünde ist jetzt die Höchstgeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern „auf dem Papier“ beschlossen.

Mit im Gepäck hatte Strieder aber auch den Forderungskatalog – an Berlin, den Bund und Polen sowie die Bahn AG –, der ehrgeizig an den noch bestehenden Grundübeln der Quasi-Verbindungslosigkeit rüttelt: eine bessere Kommunikation und Kooperation zwischen den Verkehrsträgern, die Elektrifizierung der Strecke zwischen Passow und Szczecin auf deutscher wie auf polnischer Seite, gleiche technische Standards und das Ziel, die Strecke mittelfristig durchgehend zweigleisig als IC-Strecke auszubauen. „Eine gute Bahnverbindung zwischen den beiden Städten ist eine Investition in die Zukunft“, sagte Strieder bei dem Bahn-Birthday-Treffen. Dass das polnische sowie das deutsche Verkehrsministerium ihre Staatssekretäre, die Deutsche Bahn AG, die Stadt Stettin und die Region Westpommern Abteilungsleiter und Oberhäupter schickten, wertete der Senator diplomatisch als „Erfolg“. Fakten sehen anders aus.

Schon die Prognosen, wann der Streckenausbau Wirklichkeit werden könnte, gehen ins Weite: „2007, 2010 oder 2015“, sagt Strieder. „Auf jeden Fall nicht vor 2006 ist mit einem Baubeginn zu rechnen, alles andere ist unrealistisch“, meint Bahnvize von Buschewitz. Hinter der vagen Hoffnung stecken nicht allein Finanzierungsfragen in Höhe von 103 Millionen Euro Investitionsmitteln für die Sanierung plus Neubaukosten in ungeahnten Dimensionen sowie bisher fehlende polnische Zusagen. Fast traumatisierend wirkt die ernüchternde Erfahrung nach, dass die Mühlen der Regierungen und Bahnbeamten in Warschau und Berlin mehr als langsam malen. Bei der parallelen Strecke von Berlin nach Frankfurt (Oder) und Warschau dauerten die Verhandlungen bis zum Baubeginn zehn volle Jahre. Auf dem aktuellen Streckenausbauplan der polnischen Staatsbahn PKP sucht man die Verbindung von Stettin nach Berlin vergebens – ganz im Unterschied zu Pfeilen, die nach Dresden, Prag, Budapest oder Kiew weisen.

Für Strieder, die Berliner Verkehrs- und Wirtschaftsverwaltungen, die IHK sowie Gernot Ribka, stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, ein Unding: Um endlich den Bogen zu kriegen in die größte Stadt nahe Berlins „muss man Angebote schaffen, die Infrastrukturen ausbauen“, sagt Strieder. Dies seien die Garanten, den Antriebswillen für den wirtschaftlichen Austausch oder Tourismus zu befördern, der sich in den letzten Jahren langsam – zu langsam – entwickelt hat. Mehr noch erinnert Ribka an die traditionellen kulturellen Partnerschaften zwischen beiden Städten, die feststecken. Da müsse das Eis gebrochen werden – insbesondere auf Berliner Seite, mahnt er, wo weniger Interesse füreinander vorhanden sei als auf Stettiner.

Richtig ist, Strieder und sein „Polenbeauftragter“ Stoll bemühten sich als Eisbrecher: Mehrmals war der Senator in der Vergangenheit deshalb nach Stettin gereist, um für einen besseren Anschluss – insbesondere ab der Grenze – zu werben. Mehrmals wurden den westpolnischen Partnern in Annäherungsversuchen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Chancen in der Symbiose beider Städte präsentiert. Mehrmals wurden dem Bund, der Bahn und Polen Argumente ausgebreitet, warum mehr Polen die Stadt an der Spree besuchen, Joint-Ventures angeschoben werden und immer mehr „Berliner Yachten in Stettiner Häfen“ liegen könnten.

Mit wenig Durchschlagskraft. Während in Berlin von der traditionsreichen Strecke großspurig geredet wurde, schwieg man in Polen lieber zu gemeinsamen Plänen: Priorität haben dort die Nord-Süd- und Nord-Ost-Verbindungen Richtung Warschau, Krakau und Gdansk – Resultate einer historischen Orientierung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg und Ergebnis einer psychologischen Distanz gegenüber seiner Westgrenze und darüber hinaus.

Waren in Preußen 1850 extra noch zwei Bahnhöfe, der „Berliner Bahnhof“ in Stettin und der „Stettiner Bahnhof“ in Berlin für die Strecke gebaut worden, um in der Folge Waren und Menschen zu den Docks und Werften, den Stränden der Ostsee und Westpommerns zu transportieren, schnitten der Krieg und die Westverschiebung Polens nach 1945 die einstmals 68 Verbindungen täglich (der Regelzug in 105 Minuten) zwischen Berlin und Stettin total ab. Am 9. November 1945 erließ der Stadtpräsident Szczecins zudem das Dekret, das alle Deutschen zum Verlassen der Stadt aufforderte. Bis Mitte der 70er-Jahre blieb die Bahnlinie gekappt. Die Stettiner und Ostdeutschen mussten über Frankfurt (Oder) reisen.

Marschall Zygmunt Meyer, Vertreter der polnischen Region Westpommern, veranschaulicht die fast schizophrene Situation zweier einstiger Partner, die die Geschichte getrennt hat. Insbesondere bei der älteren polnischen Generation, die noch den Zweiten Weltkrieg und die Jahre der verordneten Annäherung zur DDR miterlebt hatte, lauerten Albträume vor Deutschland, der EU und dem kapitalistischen Durchmarsch ab Mai 2004. „Polen steht mit der EU vor einer unsicheren Zukunft, und das verursacht Unruhe. Nicht nur, weil Deutschland unser Nachbar ist, sondern weil sich so viel verändern wird.“

Zugleich hofft Meyer aber auf die zukünftige Entwicklung und den schnelleren Link zu Berlin – vorausgesetzt, der Wirtschaftsstandort Berlin etwa mit einem Großflughafen ermutige die Polen zu einem Trip dorthin. Dass Senator Strieder dies als Signal deutet, dass die Westpolen ihre Hoffnung auf den Westen setzen, ist evident. Sein Job hängt an der Hoffnung. „Berlin liegt nun mal näher als Warschau“, sagt er zum Abschied. „Wir sehn uns!“, ruft der Senator aus der Bahn Meyer zu. Fragt sich nur, wann.