Unvergleichliche Solidarität

In seiner internationalen Studie zeigt Franz-Xaver Kaufmann: „Nationale Eigensinnigkeiten“ prägen die Sozialsysteme. Es wird deshalb selbst im zusammenwachsenden Europa weiterhin diverse „Varianten des Wohlfahrtsstaates“ geben

von ULRIKE HERRMANN

Nichts ist so beliebt wie der Vergleich oder neumodisch: „Benchmarking“. Ob die OECD, die Europäische Kommission, der Internationale Währungsfonds oder die diversen Forschungsinstitute: sie alle erstellen ständig Hitlisten, welche Länder am besten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik abschneiden. Deutschland muss sich meist damit abfinden, höchstens im Mittelfeld zu landen. Beim Thema Niedriglohnsektor werden uns die USA oder Großbritannien empfohlen, bei der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts sind die Niederlande vorn und bei kreativen Lebensarbeitszeitmodellen wird gern Dänemark zitiert.

Angesichts dieser Konjunktur des internationalen Vergleichs agiert der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann wohltuend antizyklisch: Er glaubt nicht an die simple Übertragbarkeit von sozialpolitischen Ideen. In seinen „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ will er zeigen, wie „nationale Eigensinnigkeiten“ die Entwicklung von Sozialsystemen prägen. Er vergleicht zwar auch, aber nur, um vorzuführen, wie unvergleichlich Sozialpolitik sein kann. Daher lag ihm nichts daran, einen weiteren Ratgeber zu verfassen, wie Deutschland dem viel beklagten „Reformstau“ entkommen soll. Kaufmann interessiert sich nicht für die Kategorie „Reformfähigkeit“, er will das Gespür für die Einzigartigkeit einer jeden Nation wecken. Alle Sozialsysteme sind für ihn „eigenständige Kosmologien“. Sein internationaler Vergleich soll dazu beitragen, das scheinbar „Selbstverständliche seiner Selbstverständlichkeit zu entkleiden“.

Zunächst werden die Sowjetunion und die USA derart entkleidet. Denn anhand eines „sozialistischen“ und eines „privatkapitalistischen“ Entwicklungstypus will Kaufmann klarer fassen, was eigentlich den westeuropäischen „Wohlfahrtsstaat“ charakterisiert. Es sind zwei normative Überzeugungen, beide nicht überraschend für die einheimischen Leser: Erstens ist das Individuum frei, es hat demokratische Rechte und darf über Produktionsmittel verfügen. Zweitens haben alle Bürger einen Rechtsanspruch auf sozialen Schutz und Teilhabe.

Diese letzte Bedingung ist auch in den USA nicht erfüllt. So gibt es bis heute gerade in den Südstaaten keine effektive staatliche Unterstützung für die Unterschichten – weil sie überwiegend farbig sind. Der Rassismus der Sklaverei klingt nach. Aber auch weiße Arbeitslose ohne Familie müssen in fast allen Staaten ohne geordnete Unterstützung auskommen. Dies ist auch eine Folge der „Frontier-Erfahrung“; die USA verstehen sich als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wer erfolglos bleibt, ist selbst schuld. Soziale Ungerechtigkeit ist daher legitim; sozialpolitische Korrekturen würden nur die heilsame Kraft der Konkurrenz stören. Dies gilt jedoch nicht für die „worthy poor“, also Alte, Behinderte und Hinterbliebene. Für sie gibt es in den USA nationale Hilfsprogramme.

Mit den „worthy poor“ setzte auch die staatliche Sozialpolitik in Großbritannien ein; es ist neben Frankreich, Schweden und Deutschland eines der vier westeuropäischen Länder, die Kaufmann untersucht. Während sich etwa die Bismarck’schen Sozialversicherungen in Deutschland auf die Industriearbeiter konzentrierten, dominierte in Großbritannien schon seit dem 17. Jahrhundert die Armutsfrage. Diese Prägung hat sich bis heute fortgesetzt, etwa im staatlichen Rentensystem: In England soll es Armut verhindern, nicht jedoch – wie in Deutschland – den Lebensstandard auch im Alter sichern. Dafür sind betriebliche Kassen und private Vorsorge zuständig.

In Frankreich wiederum interessierte nicht so sehr die Armuts- oder Arbeiterfrage, sondern die Familienpolitik. Dies ist eine Fernwirkung der Erbregelungen im „Code Napoleon“ von 1808: Um eine Vermögenszerstückelung zu verhindern, bekamen Bauern und Bürger schon vor knapp 200 Jahren weniger Kinder. Zwar wuchs auch die französische Bevölkerung im 19. Jahrhundert um 43 Prozent – aber in den anderen Ländern Europas verdreifachte sich die Zahl der Staatsbürger. Seither versucht der französische Staat die Geburten zu steigern. Für die 1980er-Jahre wird geschätzt, dass mehr als 20 Prozent des französischen Sozialbudgets auf die Familien entfielen, verglichen mit 15 Prozent in Schweden, 11 in Großbritannien und 4 in der Bundesrepublik.

Wieder ganz anders lagen die Interessen in Schweden, das nie einen starken Adel gekannt hat. Hier setzten die mächtigen freien Bauern durch, dass auch sie vom staatlichen Sozialsystem profitieren – und nicht nur die Industriearbeiter. Es entstand daher ein „universalistisches Sicherungssystem“: Alle Sozialleistungen stehen grundsätzliche jedem dauerhaften Einwohner des Landes zu.

Sehr wohltuend: Kaufmann verzichtet bewusst auf die Zahlenkaskaden, die sonst so beliebt sind beim internationalen Ranking. Nüchtern teilt er eine Ohrfeige aus: „Ohne die Klärung der zugrunde liegenden Definitionen sind Zahlen im internationalen Vergleich häufig irreführend.“ Denn sie werden unterschiedlich generiert, unterschiedlich definiert und dienen unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, was nicht selten – auch schwierig – Datenlücken erzeugt.

Angesichts dieser methodischen Redlichkeit ist es bedauerlich, dass die wenigen Zahlen, die Kaufmann dann doch verwendet, oft stark veraltet sind und ein bisschen willkürlich wirken. So seien 1981 in den USA 27 Millionen Arme gezählt worden. Und übergenau wird sogar mitgeteilt, dass darunter 11 Millionen Kinder unter 15 Jahren waren. Doch wie sich diese Zahl seit 1981 entwickelt hat, das erfährt man leider nicht. Ebenso bedauerlich ist die oft sperrige Sprache, zumal sich das Buch „insbesondere für Studenten“ eignen soll.

Für Kaufmann sind die „eigensinnigen Kosmologien“ der Vergangenheit auch die sozialpolitische Zukunft: Die „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ werden bestehen bleiben – trotz der europäischen Integration. Der Soziologe hält es für keinen Zufall, dass ausgerechnet die Sozialversicherungen und die Einkommenssteuern nicht auf der Harmonisierungsagenda stehen. Dafür gebe es „gute Gründe“, und dann folgt wieder einer dieser trockenen Kaufmann-Sätze: „Denn noch auf lange Zeit dürfte die nationale Solidaritätsbereitschaft größer als die europäische bleiben.“ Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit sieht er nicht. „Die Entwicklung der Sozialleistungsquoten zeigt ein deutliches Aufholen der Niedriglohnländer … So scheint ein allmähliches Konvergieren der Sozialstandards eher wahrscheinlich.“

Das Buch endet unspektakulär: „Bis auf weiteres ist damit zu rechnen, dass die nationale Ebene auch innerhalb Europas weiterhin die entscheidende sozialpolitische Arena bildet.“ Man merkt, wie sehr dies Kaufmann freut.

Franz-Xaver Kaufmann: „Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich“, 329 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, 12 €