Essen im Koffer statt im Kühlschrank

Trotz verbesserter Sicherheitslage im Irak bleibt die Gewalt ein dominierender Aspekt im Leben der Frauen, mit gravierenden Folgen. Vor allem Witwen leiden unter der Armut. Für 30 Millionen Menschen gibt es 437 Psychiater und Sozialarbeiter

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

„Irakische Frauen leiden eine stille Not, gefangen in einer Spirale von Gewalt, Armut und persönlicher Unsicherheit, trotz der generellen Abnahme der Gewalt im Land.“ So lautet die düstere Schlussfolgerung einer Studie der britischen Hilfsorganisation Oxfam mit dem Titel „In ihren eigenen Worten“.

Die Umfrage wirft ein erschreckendes Schlaglicht auf die Lage der Frauen im Irak. Sie zeigt, wie sie trotz verbesserter Sicherheitslage mit den Konsequenzen des Krieges täglich zu kämpfen haben. Gewalt bleibt ein dominierender Aspekt im Leben der 1.700 befragten Frauen. Mehr als die Hälfte bezeichnen sich als Opfer von Gewalt. Jede fünfte Irakerin spricht von häuslicher Gewalt. Jede dritte irakische Frau hat erlebt, wie mindestens ein Familienmitglied einen gewaltsamen Tod gestorben ist.

Vor allem beim Tod der Ehemänner, Väter und Brüder hat das oft den Absturz in Armut zur Folge. 76 Prozent der Witwen erhalten keinerlei Rente von Staat. Dazu kommt, dass seit dem Krieg 2003 über die Hälfte der Frauen mindestens einmal aus ihren Häusern vertrieben wurden.

„Mein Vater hatte einen Laden für Farben im Zentrum von Bagdad. Es ging uns finanziell gut. Als die Gewalt zunahm und wir umziehen wollten, ging er am 16. Juni 2004 ein letztes Mal in sein Geschäft, als davor eine Bombe explodierte und ihn tötete. Er hatte das einzige Einkommen der Familie verdient. Meine Mutter bekam als Witwe keine Pension vom Staat“, wird Huda von Oxfam zitiert. Danach wurde ihr Bruder von Milizionären umgebracht. Huda wurde später noch zweimal aus ihrem Haus vertrieben; heute muss sie mit zwei Jobs ihre Familie ernähren.

Ein Viertel der befragten Frauen hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Ein Drittel hat weniger als drei Stunden am Tag Strom. Wie Amal. „Ich würde meinen Kindern gern sauberes und kaltes Trinkwasser anbieten und unsere Lebensmittel nicht in einem Koffer statt in einem Kühlschrank lagern. Ich würde gern richtige Arbeit finden. Ich bin total ausgelaugt, aber immerhin muss ich noch nicht betteln gehen. Meine Würde ist alles, was mir geblieben ist“, sagt sie. Amal verkauft Ziegel, die sie gesammelt hat.

Mehr als 40 Prozent der befragten Frauen gab an, dass ihre Söhne und Töchter nicht zur Schule gehen. Die Unsicherheit des Schulwegs, hohe Transportkosten oder konservative Vorstellungen über Mädchenausbildung werden als häufigste Gründe angegeben. Der Irak hatte vor dem Krieg die höchste Einschulungs- und geringste Analphabetenrate in der arabischen Welt.

Da jeder dritte Iraker ein Feuergefecht oder einen Anschlag erlebt hat und jeder zehnte erfahren hat, wie er selbst oder ein Familienmitglied entführt oder verhaftet wurde, erhebt sich zudem die Frage, welche psychischen Folgen die Gewalt im Land für die Einzelnen haben. Um das herauszufinden, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO in Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung mehr als 4.300 Iraker über ihren psychischen Gesundheitszustand befragt.

Das Ergebnis der Studie, die jetzt im Journal World Psychiatry veröffentlicht wurde, ist überraschend. Die Iraker scheinen nach Jahrzehnten von Krieg und schweren Lebensumständen mental relativ abgehärtet zu sein. Nur 17 Prozent gaben an, unter einen posttraumatischem Stresssyndrom oder einer Depression gelitten zu haben. „Traumata und der Umgang damit scheint nach sechs Jahren brutalem Konflikt und nach den Jahren unter Saddam Hussein eine Art irakischer Way of Life zu sein“, folgern die Autoren der Studie. Allerdings scheinen nur die wirklich schweren Fälle angegeben worden zu sein, da psychische Krankheiten im Irak stark stigmatisiert sind. Das zeigt sich daran, dass sieben von zehn Irakern, die angaben, unter einer solchen Krankheit gelitten zu haben, erklärten, dass sie mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt hätten.

Nur 10 Prozent derer, die unter psychischen Krankheiten litten, erklärten, dass sie behandelt worden sind. Von den wenigen spezialisierten Ärzten sind viele ins Ausland geflohen. In dem Land mit fast 30 Millionen Einwohnern gibt es laut der 102-seitigen Studie ganze 437 Psychiater und Sozialarbeiter.