berliner szenen Die letzte Mahnung

Wo leben wir eigentlich?

An den drei Fahrradständern am Mehringdamm standen mehrere Fahrräder, einem fehlten die Räder. Dieser Damenfahrradtorso schien umso mitleiderregender, je deutlicher seine Lächerlichkeit hervortrat, die darin bestand, dass es sich jetzt um ein Fahrrad handelte, dem sein Begriff abhanden gekommen war, bzw. um eines, das seinen Begriff in dem Augenblick gleich zweimal negierte, in dem man ihn aussprach.

Was man eingedenk seiner wahrscheinlichen Vergangenheit noch Fahrrad nannte, war ja nun infolge vandalistisch räuberischer Akte ein Ding ohne Rad, mit dem man nicht mehr fahren konnte; ein sinnlos Gewordenes, das umso lächerlicher wurde, je mitleiderregender es doch war. An dem Fahrrad, das teuer gewesen zu sein schien, klebten mehrere Zettel, die wohl der Besitzer drangeklebt hatte. Auf den Zetteln stand in sorgfältiger Handschrift: „Wo leben wir eigentlich, dass keiner mehr Rücksicht auf die anderen nimmt“, „Ich muss dafür hart arbeiten. Warum macht ihr euch das so leicht“ und „Verreckt doch alle, ich wünsche euch nichts Gutes. Mißgeburten, A-soziales Pack, Stink-Schweine“.

Die Recht-, Groß- und Kleinschreibung war eigen, auch dass es keine Ausrufungszeichen gab. Dass der Damenfahrradtorso unabgeschlossen war, deutete darauf hin, dass der empörte Besitzer sein Fahrrad aufgegeben und keine Lust mehr hatte, sich zwei neue Räder zu kaufen. Die Fahrradleiche diente nicht mehr zum Fahren, sondern nur noch als Unterlage für die anklagenden Worte an die Vandalen, die der Besitzer in der Vorstellung drangeschrieben hatte, dass die Beschädigungen ihre Verursacher anziehen würden, wie man ja auch sagt, dass es Mörder wieder an den Ort ihres Verbrechens zieht.

DETLEF KUHLBRODT