Wir brauchen Elitedenken

Nach dem olympischen Misserfolg: Dieter Baumann kritisiert „bequeme“ deutsche Leichtathleten, die „auf Profi machen“ – und die „Förderung des Mittelmaßes“. Er rät: von Schweden lernen

VON DIETER BAUMANN

Dieter Baumann ist 5.000-m-Olympiasieger von 1992.

Das olympische Feuer war noch nicht erloschen, und schon entbrannte eine lautstarke Diskussion um Reformen in der Leichtathletik. Nach dem blamablen Abschneiden mit nur zwei Silbermedaillen durch Nadine Kleinert im Kugelstoßen und Steffi Nerius im Speerwurf war das nicht überraschend. Bereits im Vorfeld der Spiele sprach die DLV-Spitze von einem „Geheimplan“, um deutschen Athleten wieder auf die Erfolgsspur zu verhelfen. Der Plan X sieht nur noch ein Profiteam in der Leichtathletik vor. Es soll nur noch einen Stützpunkt – Köln oder Potsdam – geben, nur noch eine sportliche Betreuung – durch die Bundestrainer –, und nur noch eine Saisonplanung – durch den DLV.

Im Gegenzug sollen die Sportler dafür eine fürstliche Bezahlung bekommen. Die Rede ist von 5.000 bis 7.000 Euro im Monat. Nehmen muss es niemand, alles ist freiwillig, versteht sich. Allerdings steht dem Athleten beim Verzicht auf das Profiteam keinerlei Förderung mehr zu. Irgendwie erinnert dieser Vorschlag an alte Zeiten. Ein zentral gesteuerter Verband soll’s richten, um die „verweichlichten“ Athleten auf Trab zu bringen.

In einer immer individueller werdenden Gesellschaft, in einer Sportart mit hunderten von Vereinen und ehrenamtlichen Strukturen ist es aus meiner Sicht nicht möglich, mit zentralistischen Verbandsstrukturen zum Erfolg zu kommen. Im Gegenteil. Alle ehrenamtlichen Übungsleiter würden jede Motivation verlieren, junge Menschen zu betreuen. Denn kaum hätten die Athleten gewisse Leistungsstandards erreicht, wären sie automatisch dem Zugriff des Verbands ausgeliefert.

Dabei übersieht der DLV, dass die Leichtathletik gerade durch Individualisten geprägt wird. Durch sie erhält diese Sportart ihr spezifisches Gesicht, ihre Stärke. Deshalb sollte man gerade diese Individualität fördern. Sportarten, bei denen aufgrund spezieller Einrichtungen wie Kunstturnzentren, Schwimmhallen oder auch Sparringspartner für Trainingskämpfe zwangsweise eine zentralere Ausrichtung nötig ist, sind mit der Leichtathletik nicht zu vergleichen. Bleibt als einziges Argument für ein Profiteam die ständige Konkurrenz im Training, das gegenseitige Reiben. Nur, wer soll sich mit wem reiben? Die Speerwerfer mit den 800-Meter-Läufern?

Nein, der Weg aus der Krise sieht ganz anders aus. Warum kein dezentrales Fördersystem wie in Schweden? Warum nicht die Heimtrainer und die Klubs stärken, Geld und Kraft dort einsetzen, wo die Talente geboren werden? Es ist mir durchaus bewusst, dass wir Sport- und Förderstrukturen aus anderen Ländern mit anderen Mentalitäten nicht ohne weiteres übernehmen können, und dennoch hilft ein Blick über den Tellerrand.

In Athen gab es drei Goldmedaillen für Schweden. Bei allen drei Athleten wurden ihr punktgenaues Leistungsvermögen, ihre Lockerheit und ihre Fröhlichkeit bewundert. Der schwedische Verband setzt konsequent auf Heimtrainer, die täglich mit ihren Schützlingen arbeiten. Er investiert ganz gezielt in die Fortbildung der Klubtrainer.

Nun ist Deutschland größer, und der DLV hat mehr hauptamtliche Trainer. Ihr Tätigkeitsfeld müsste neu definiert werden. Der Bundestrainer müsste ein Disziplinmanager sein, der ein Kommunikationsnetz innerhalb aller Heimtrainer und Athleten der jeweiligen Disziplin herstellt. Er müsste Kurzlehrgänge mit hoher Teilnehmerzahl und häufiger Wiederholung innerhalb eines Jahres durchführen, um eine breite Basis zu erreichen, aus der wieder neue Spitzenkönner erwachsen können.

Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, dass der Leistungssport immer etwas mit einem Elitegedanken zu tun hat. Erfolgreiche Leichtathleten sind in ihrem Bereich Elite. Innerhalb des DLV werden weit mehr als 600 Athleten in verschiedenen Kadern geführt und damit auf unterschiedliche Art und Weise gefördert. Grundsätzlich können sich junge deutsche Athleten nicht über mangelnde Unterstützung beklagen, aber der Elite in der Leichtathletik sind sie nicht zuzuordnen. Trotzdem können sich fast alle deutschen Spitzenathleten auch ohne internationale Klasse ein Studium finanzieren oder einige Jahre „auf Profi machen“. Ihre afrikanischen Kollegen können sich gar nicht vorstellen, dass ein Läufer mit einer Zeit um 13:45 Minuten über 5.000 Meter regelmäßig finanziell unterstützt wird.

Fakt ist: Unser Sportsystem fördert das Mittelmaß. Zu leicht verlieren dadurch die Athleten den Ehrgeiz auf eine Spitzenleistung. Viele haben auf dem Weg nach Athen erkannt, dass sie es bis ganz oben nicht schaffen werden und dabei für sich eine Nische entdeckt, in der es sich, für eine gewisse Zeit zumindest, bequem leben lässt. Das Anspruchsdenken schwankt oft zwischen unrealistischer Zielsetzung und bequemer Zufriedenheit. Beides kann nicht zur verstärkten Motivation beitragen.

Das Argument der laschen Dopingkontrollen im Ausland und damit einer gewissen Chancenlosigkeit greift oftmals zu kurz und darf zu keiner Pauschalentschuldigung führen. Die Zeiten, Weiten oder Höhen, die für das Erreichen des Endkampfs in vielen – nicht in allen Disziplinen – nötig waren, haben sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Mit 3:37,15 wurde man im 1.500-Meter-Finale Siebter, das ist kein Hexenwerk.

Wie es geht, hat die Speerwerferin Steffi Nerius bewiesen. Sie hat früh im Jahr ihren Anspruch auf eine Medaille bekundet und bis zum letzten Versuch um ihre Chance gekämpft. Das Ergebnis ist bekannt: Sie warf deutschen Rekord und errang Silber.