Unvergessliche Verletzungen

Schonungslos erzählt: Barbara Gowdy lässt in ihrem neuen Buch „Die Romantiker“ eine Frau von der großen, unerwiderten Liebe ihrer Jugend berichten – ohne Scheu vor Peinlichkeiten. Morgen liest die kanadische Autorin in den Kammerspielen

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Louise Kirk, die Erzählerin in Barbara Gowdys jüngstem Roman Die Romantiker, hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Die kanadische Erfolgsautorin, die als Spezialistin fürs Absonderliche gilt, gab nach Erscheinen ihres letzten Buches Die weißen Knochen zu Protokoll, es gebe tatsächlich zahlreiche Indizien dafür, dass Elefanten sich an alles erinnern, jederzeit. „Wir Menschen“, so Gowdy weiter, „vergessen, wir verdrängen. Das ist sowohl schlecht als auch hilfreich: Wie schwer wäre das Leben, wäre uns jeder Fehler ständig gegenwärtig; jedes Schamgefühl, jede tiefe Verletzung.“ Die weißen Knochen war, ohne albern zu wirken, vollständig aus der Perspektive der Dickhäuter mit dem guten Gedächtnis geschrieben. Die Romantiker folgt den Erinnerungen einer von der Liebe Versehrten nach dem Tod dessen, den sie all die Jahre geliebt hat, ihres Jugendfreundes Abel.

Ein erstaunlich unfrisierter Bericht präsentiert sich da dem Leser, über eine Kindheit Anfang der 60er Jahre in einem Vorort Torontos, über eine früh verschwundene Mutter, die einmal Schönheitskönigin gewesen ist und dem Kind seine Minderwertigkeit täglich wie mit dem Waffeleisen eingeprägt hat. Louise erzählt aber auch von ihren peinlichen Versuchen, Abels Mutter, die aus Deutschland eingewanderte Mrs. Richter, zu einer Adoption zu bewegen, indem sie sich ihr möglichst verwahrlost präsentiert. Davon, wie das Kind seine Liebe für die Nachbarsmutter gegen die für ihren Sohn eintauscht, von zaghaften Annäherungen beim Spielen im Wald, von einer Freundschaft schließlich, in der die beiden Außenseiter zusammenkommen, ohne dass Louise je das Gefühl hätte, genug zu bekommen.

Als die beiden sich nach Jahren der Trennung als Teenager wiedertreffen, ist das Gefälle der Gefühle füreinander längst zementiert. Louise wird schwanger, entscheidet sich für einen Abbruch, als sie Abel eine andere küssen sieht. Der Angehimmelte, erst 17 Jahre alt, hat da schon begonnen, sich zu Tode zu trinken. Zugleich schonungslos und unaufdringlich geht Louise während dieser Rückschau, die vielfach zwischen den Zeiten ihrer Vergangenheit springt, mit den eigenen Verletzungen um. Nichts wirkt kaschiert, vielmehr zerrt sie gerade das, was schlimm oder peinlich genug gewesen wäre, um verdrängt zu werden, ans Tageslicht. Nur selten umnebelt ein wenig Sarkasmus die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

„Die Vergangenheit ist erst beständig, wenn sie tot ist. Wie sollen wir sie bewahren? Solange sie lebt – in der Erinnerung weiterlebt, wie wir immer sagen –, kann sie verderben.“ Derlei Bedenken ihrer Erzählerin, an den Anfang des Romans gestellt, weiß Gowdy gekonnt zu entkräften. Unter ihrer Feder bleiben die Erinnerungen Louises lebendig, akut durch das Präsens der Sätze. Dem Elefantengedächtnis geht keine Nuance früherer Gefühlslagen verloren, und Louises anfängliche Angst, „durch dauernde Handhabung“ könnten ihre Erinnerungen „allmählich zu Stein“ werden, erweist sich als unbegründet. Derart erzählt, wird hingebungsvolle Liebe, zumal die einer Frau, weder nachträglich verklärt noch verworfen, sondern einfach als Möglichkeit gezeigt.

Lesung: morgen, 20 Uhr, Logensaal der Kammerspiele Barbara Gowdy, Die Romantiker, Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 348 S., 19,90 Euro