EUROPA SCHWEIGT ZUR TRAGÖDIE IN TSCHETSCHENIEN – DAS RÄCHT SICH
: Russischer Zynismus

In Wolgograd beerdigten am Sonntag Angehörige die Opfer des Terroranschlages auf russische Flugzeuge von vergangener Woche. Am selben Tag veranstaltet Moskau fröhliche Wahlen in der Kriegsrepublik, aus der die Selbstmordattentäterinnen stammten. Es wird manipuliert wie einst in der Sowjetunion. Ein vergleichbarer Spagat gelingt – und das auch nur vorübergehend – Diktaturen oder totalitären Systemen. Russland unter Wladimir Putin ist weder eine ausgewachsene Diktatur noch ein totalitäres Regime. Weder gibt es einen Gulag noch eine menschenverachtende Ideologie. An ihre Stelle trat stattdessen ein menschenverachtender Zynismus einer politischen Elite, die außer Machterhalt und persönlichem Vorteil keine politische Vision besitzt. Dieser Zynismus ist egalitär, er macht keinen Unterschied zwischen ethnischen Russen, kaukasischen oder anderen Minderheiten. Er kennt keine moralischen Prinzipien, sondern basiert auf ethischem Nihilismus.

Das ist Russlands Fluch. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus war Moskau von der zivilisierteren Welt nie weiter entfernt denn heute. Sie ist für Moskau kein Vorbild mehr, sondern eher ein Objekt mitleidigen Lächelns. Durch Mord und Totschlag hat Russland den islamistischen Fundamentalismus im Kaukasus erst aus der Taufe gehoben – denn der im Gewohnheitsrecht eingebettete Sufismus der Tschetschenen hatte mit arabischem Fundamentalismus ursprünglich wenig gemein.

Durch die Politik des Schweigens macht sich Europa mitschuldig an der Tragödie und könnte bald selbst zum Schauplatz tschetschenischer Terrorakte werden. Vor allem aber lässt Europa die Aushöhlung der eigenen Fundamente durch Moskaus Zynismus und Nihilismus zu. Daran sollten Kanzler Schröder und Präsident Chirac zu Besuch bei Putin heute denken und auch daran, worüber sich der Fürst Dolgorukow vor 150 Jahren entrüstete: „Unsere Regierung hat der Lüge eine offizielle Organisation gegeben und sie zum Range einer politischen Institution erhoben.“ Der mutige Teil der russischen Restöffentlichkeit hat dem auch heute nichts hinzuzufügen. KLAUS-HELGE DONATH