Wächter mit der Strichliste

Medien Tenor untersucht regelmäßig die Berichterstattung und vergibt Preise für journalistische Vielfalt auch mal an die taz. Seine Studien sind bisweilen allerdings mit Vorsicht zu genießen

aus Bonn DIRK ECKERT

Als die Bild-Zeitung im August über einen in Miami lebenden und schnell „Florida-Rolf“ getauften Sozialhilfeempfänger berichtete, schlugen die Wogen hoch: Sozialministerin Ulla Schmidt legte umgehend neue Regeln für Sozialhilfe vor, Lokalzeitungen gingen auf die Suche nach dem Verräter im eigenen Verbreitungsgebiet und bereicherten die deutsche Presselandschaft um Schlagzeilen wie „Dachaus Florida Rolf heißt Michiel“ (Münchner Merkur Online) oder „Wesel hat keinen Florida-Rolf“ (Neue Ruhr Zeitung).

Für Medien Tenor ist das Ganze ein klarer Fall von gelungenem „Agenda-Setting“, also der Kunst, Themen zu setzen. Und so ging der entsprechende Preis beim diesjährigen Kongress des Bonner Medienforschungsinstituts an das Boulevard-Blatt aus Hamburg. Medien Tenor untersucht seit 1993 die deutsche und internationale Medienlandschaft, veranstaltet einmal im Jahr einen Kongress und vergibt Preise für journalistische Vielfalt, den in der Kategorie Tageszeitungen dieses Jahr die Frankfurter Rundschau bekam, wobei die taz gleichauf mit der FAZ auf dem zweiten Platz landete.

Die Auszeichnungen basieren auf den Daten, die die Bonner selbst erstellen. Codierer gehen Tag für Tag alle größeren Zeitungen durch und registrieren beispielsweise, ob andere Medien zitiert werden, welche Politiker vorkommen, wie groß der Anteil von Agenturmeldungen ist oder welche Themen aufgegriffen werden. Auch diverse Fernsehsender werden so erfasst.

Doch das Datensammeln ist das eine, die Auswertung das andere. Und die ist manchmal fragwürdig: Etwa wenn Bild einen Preis bekommt und Medien Tenor gleichzeitig das deutsche Fernsehen und dessen Irakkriegs-Berichterstattung wegen angeblich schlechter Qualität zerpflückt: Angeblich war’s derart mies, dass in der beim alljährlichen Preissegen sonst üblichen Kategorie „Deutsche Nachrichtensender“ dieses Jahr überhaupt keine Auszeichnung verliehen wurde. Nach einer institutseigenen Statistik, die die Berichterstattung vom 20. März bis zum 2. April untersucht, hat beispielsweise „Tagessthemen“-Moderatorin Anne Will von allen erfassten Fernsehjournalisten die meisten „Vermutungen“ geäußert. Aufgrund dieser rund 80 „Vermutungen“, zu denen von „Unwissen“ bis hin zu „Spekulationen über mögliche Entwicklungen“ alle Aussagen gerechnet wurden, „in denen der Journalist erkennbar nicht über Fakten sprach“ (Medien Tenor), wurde suggeriert, Wills journalistische Arbeit habe nur „eingeschränkte Aussagekraft“ (siehe Grafik).

Auch gegen die Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises an die Reporter Ulrich Klose (RTL) und Ulrich Tilgner (ZDF) wettert Medien Tenor: „Das Markenzeichen von Hanns-Joachim Friedrichs war präzise Information und Zurückhaltung im Urteil. Vermutungen, Spekulation oder gar Parteinahme waren ihm ein Gräuel“, hieß es in einer Pressemeldung. Doch laut einer Statistik, die Medien Tenor für die FAZ erstellte und die am 14. April veröffentlicht wurde, hatte Tilgner mehr als fünf Mal die Formulierung „weiß nicht“ verwendet, Klose sogar über fünfzehn Mal.

Aber kann man daraus schließen, dass beide „Vermutungen statt Fakten“ präsentiert hätten, wie die entsprechende Grafik zum FAZ-Artikel überschrieben ist? – Wohl kaum. Und wie viele Aussagen haben die Reporter eigentlich insgesamt gemacht? – Keine Angaben.

Selbst die FAZ, immerhin Auftraggeberin der Studie, hatte ihre Zweifel: „Die Grenzen seines Wissens offen zu legen ist nicht die geringste Tugend eines Korrespondenten.“ Dass nicht gesicherte Quellen gekennzeichnet, Verlautbarungen des US-Militärs nicht unkritisch übernommen wurden – all das zählt nicht.

In Wirklichkeit ging es Medien Tenor und FAZ auch um anderes: die deutschen Medien, die nach Schröders Nein zum Krieg diesmal – anders als noch im Jugoslawienkrieg – kritischer waren, als Saddams nützliche Idioten darzustellen. Dafür spielten Medien Tenor und FAZ den Krieg als „amerikanische Militäraktion“ herunter und behaupteten sogar, „Saddams Terror“ sei „kein Thema für Tagesschau und RTL“ gewesen. Als Beleg führten sie eine Statistik an, aus der aber nur hervorgeht, dass „Repression und Diktatur im Irak“ bzw. „Befreiung Iraks von Saddam Hussein“ in der „Tageschau“ und „RTL Aktuell“ weniger häufig als in den „Tagesthemen“ und im „heute journal“ thematisiert wurden. Welch eine Erkenntnis: In längeren Sendungen ist offenbar mehr Platz als in den knappen Hauptnachrichten. Und wie bitte misst man die „Befreiung Iraks von Saddam Hussein“?