Rot-Grün wehrt sich gegen ruhige Hand

Ist das der Reformstopp? Obwohl die Versicherung für den Zahnersatz ausgesetzt ist und die Bürgerversicherung frühestens ab 2006 kommt, beteuert die Koalition, sie sei weiter auf Reformkurs. Doch geplant sind nur noch Korrekturen bei der Pflege

AUS BERLIN COSIMA SCHMITT

Die SPD verschiebt, Deutschland debattiert. Am Tag nach dem SPD-Beschluss, die Zahnersatz-Neuregelung auszusetzen und eine Bürgerversicherung in die Zeit nach 2006 zu vertagen, diskutieren Politiker der Regierungskoalition: Ist die Verschiebung sinnvoll – oder werden überfällige Veränderungen unnötig vertagt?

Angelika Beer, Bundesvorsitzende der Grünen, sieht keine Anzeichen für einen neuen Kurs der Langsamkeit. „Ich habe überhaupt nicht den Eindruck, dass das Ende der Reformen eingeläutet ist. Ein solcher Vorwurf ist absurd“, sagte sie gestern. Allein die Agenda 2010 zeige: Die Reformen dieser Regierung gehen weit über die Legislaturperiode hinaus. „Wir sind uns mit der SPD einig, dass der Reformkurs fortgesetzt wird“, sagt Beer. Die aktuellen Reformstopps seien begrüßenswert: Ein ausgegliederter Zahnersatz „war ohnehin nie ein Herzensanliegen der Grünen“, sagte sie. Auch der Entschluss, die Bürgerversicherung frühestens 2006 einzuführen, entspreche grünen Zielen: „Wir haben immer gesagt, dass wir keinen Gesetzentwurf im Schnellverfahren wollen.“ Die Bürgerversicherung „war eine grüne Idee. Jetzt macht sie Karriere. Wie werden sie dabei unterstützen“, so Beer.

Unterdessen verteidigte Andrea Nahles, Leiterin der zuständigen SPD-Arbeitsgruppe, den Beschluss, die Bürgerversicherung frühestens 2006 einzuführen. Im jetzigen Bundesrat, den CDU und CSU dominieren, wäre sie ohnehin chancenlos, so Nahles: „Ich möchte nicht, dass wir hier mit der CDU in Verhandlungen treten und die machen uns dann die Bürgerversicherung bis zur Unkenntlichkeit kaputt.“ Die SPD sei durchaus willens, die Entscheidung zu beschleunigen – falls die Union bereit sei, „sich in ernster Weise mit dem Thema auseinander zu setzen“.

Einen Reformstau befürchten grüne Politiker hingegen bei der Erneuerung der Pflegeversicherung. Denn derzeit haben lediglich die Minimalvorgaben, die das Bundesverfassungsgericht vorschreibt, eine Chance auf Umsetzung. Ab 2005 sollen Eltern weniger in die Pflegeversicherung einzahlen müssen als Kinderlose, haben die Karlsruher Richter gefordert. Das geplante Gesetz sieht vor, dass Kinderlose einen um 0,25 Prozent höheren Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen als Eltern. Das Sozialministerium werde den Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen in den nächsten Tagen „eine Formulierungshilfe“ zur Verfügung stellen, sagte gestern eine Sprecherin des Ministeriums. „Für die Umsetzung wird die Zeit reichen.“ Eine Verschiebung dieses Gesetzes komme nicht in Betracht.

Die Grünen und etliche SPD-Abgeordnete aber hatten weit mehr gefordert – nämlich eine tief greifende Reform. Sie verlangten, die seit zehn Jahren eingefrorenen Leistungen dynamisch anzupassen, die Versorgung Demenzkranker zu verbessern und ein langfristiges Finanzierungskonzept zu erarbeiten. Die Zeit drängt: 2007 werden die Rücklagen der Pflegekassen aufgebraucht sein. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte die Pläne für eine umfassende Pflegereform schon erarbeitet, da sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder im Januar ein Machtwort. Weitere Belastungen seien der Bevölkerung nicht zumutbar, argumentierte der Kanzler.

Die Reform in einem Bereich stoppen, der weit wichtiger ist als der leidige Zahnersatz – das wollen die Grünen nach wie vor verhindern, sagte Beer gestern: „Die Gespräche gehen weiter. Für uns ist das Thema noch nicht vom Tisch.“