Schule der Verwundeten

Leidet wirklich die Hälfte der Bevölkerung an Psychosen? Im Sommer. Im Winter sind es mehr

aus Tbilissi BARBARA KERNECK

„Guck mal: die Mumie!“ Tamta ruft ihren Bruder Schota. Von den 20 Jungen und Mädchen zwischen 9 und 13 Jahren tanzt sonst bei dieser Exkursion ins Georgische Staatsmuseum in Tbilissi niemand aus der Reihe. Andächtig beugen sich sauber ausrasierte Nacken über Vitrinen mit Devotionalien. Einige der Kinder sind zum ersten Mal in einem Museum. Es ist die erste von drei Etappen des Ausflugs. Sie sollen noch ein Freilichtmuseum mit Beispielen von Dorfarchitektur besuchen und sich zuletzt an einem See erholen. An den Wochenenden stehen sie früh auf, um die „Sonntagsschule“ nicht zu verpassen.

Der Ausflugsbus hat sie im Zentrum von Tbilissi aufgelesen, vor einer renovierten Stadtvilla. „Kaukasisches Haus“ steht an der Fassade. Diese Institution wurde schon in den 70er-Jahren von georgischen GeisteswissenschaftlerInnen auf Initiative der Schriftstellerin Naira Gelaschwili gegründet. Das „Haus“ engagiert sich für den Dialog zwischen verschiedenen Ethnien im von Konflikten zerrissenen kaukasischen Raum.

Zwei dieser blutigen Konflikte fanden Anfang der 90er-Jahre im Vielvölkerstaat Georgien selbst statt und haben ihn in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen: die Bürgerkriege um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien (siehe Kasten). Etwa 320.000 Binnenflüchtlinge zählt seit 1993 das Land mit insgesamt vier Millionen Bürgern. „Die Regierung redet immer nur davon, die Flüchtlinge zu integrieren. Lasst uns also ein Beispiel geben!“, sagte vor drei Jahren Naira Gelaschwili: „Samstags und sonntags können wir in unseren Räumen Förderunterricht für Flüchtlingskinder veranstalten!“

Ein Sponsor wurde gefunden: die holländisch-deutsche Stiftung „Horizont“. In diesem Sommer läuft der vierte Kurs. Aufgenommen werden jeweils etwa 20 Kinder aus Flüchtlings- und sozial schwachen Familien. Sie bekommen Unterricht in Geografie und Ökologie des Kaukasus, Geschichte und Kultur der verschiedenen kaukasischen Völker, in klassischer Musik, Konfliktlösungsunterricht und dazu Mittag- und Abendessen.

Der Bus rußt sich vorwärts, über die Prospekte der Millionenstadt, vorbei am Hotel „Iverija“, der einst luxuriösen Absteige der Sowjetnomenklatura, heute Flüchtlingsherberge. Die Balkonträger des Hochhauses sind jetzt verrostet. Darüber hängt verschlissene Wäsche. Georgien war das prosperierende, subtropische Sanatorium der UdSSR. Heute prangen auf den Boulevards französische Boutiquen und amerikanische Hotels neben farbenfrohen Kiosken. Etwa 30 Prozent der Einwohner des Landes können hier ihr Geld verpulvern. Die restlichen 70 Prozent wissen nicht, wovon sie am Ende des Monats leben sollen. Ein Flüchtling bekommt 11 Lari – etwa 7,50 Euro – Sozialhilfe monatlich. Davon kann er sich gerade zehn Mahlzeiten aus Brot, Schafskäse und Tomaten leisten.

Das Mittagessen der Kinder wird von den Helferinnen des Kaukasischen Hauses in einer Scheune des Freilichtmuseums angerichtet. Eiserne Truhen und Eichenschränke erinnern in den Häuschen des Museumsdorfes an die Gesetze der kaukasischen Gesellschaften. In den Bergen wird Gewalt noch heute als Mittel zur Konfliktlösung widerspruchslos akzeptiert, die Ehre einer Sippe per Blutrache verteidigt.

Ein Lehrer nimmt einen kräftigen Jungen beiseite, der eben einen kleineren von der Wippe im Park geschubst hat. „Manche Jungen wollen sich von Anfang an durch Körperkraft als Führer etablieren. Andere kommen so eingeschüchtert, dass sie von den übrigen ausgelacht werden“, erzählt Asmat Parjiani, Germanistin und Leiterin des Schulprogrammes: „Bei uns sollen die Kinder gleich mitbekommen, dass dies nicht eine Schule für die Starken ist, wie die normalen Schulen in diesem Land. Wir möchten in ihnen Verständnis, Mitleid und Verantwortungsgefühl wecken.“

Später, am See, kreischen Jungen und Mädchen aus der Gruppe am Schildkrötensee einem Fußball hinterher, den es auf dem Wasser abgetrieben hat – ein schwerer Verlust. Ein Junge, Nika Schonia, sitzt blass daneben. „Ich konnte nicht mitspielen“, sagt er: „Hier fühle ich mich wohler.“ Als der Zwölfjährige im Mai in die Schule kam, litt er unter Herzbeschwerden, jetzt sind sie verschwunden. Nika strahlt aus moosfarbenen Augen zwischen dichten, stacheligen Wimpern. Eine Dame in Schwarz mit Spuren einstiger Schönheit löst sich aus der Reihe begleitender Mütter am Ufer, geht aufrecht auf Nika zu – seine Mutter Nono Schonia. Sie macht sich heftige Sorgen um den Sohn, um sich selbst, um all ihre Angehörigen. Nono Schonia leidet unter einem Kriegstrauma.

„Ich bin jetzt 43 Jahre alt“, erzählt sie: „Mein Bruder ist vor acht Jahren gestorben, er war damals 39. Den eigentlichen Knacks hat er sich bei einer der ‚Säuberungen‘ der abchasischen Truppen geholt. Danach hat er nie wieder gelacht.“

Bis vor wenigen Wochen hat Nono Schonia sich noch gefürchtet, auf die Straße zu gehen. Ein Haus und einen Garten voller Mandarinenbäume hatte sie in der abchasischen Stadt Gali bei der Flucht zurückgelassen, Nika war damals kaum zwei Jahre alt. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Söhnen bei der Familie ihrer Schwester in Tbilissi, acht Menschen in einer Einzimmerwohnung mit Küche. „Das ist mehr ein Zusammenquälen als ein Zusammenwohnen“, sagt sie.

In den armen Ländern der GUS spricht man von seinen Krankheiten noch voller Stolz: Nonos Schwager sitzt im Rollstuhl, der Schwester wurde ein acht Kilo schwerer Tumor herausgeschnitten, irgendwie erkrankt ist auch Nonos Mann, sie selbst leidet an einer Bauchspeichel- und einer Darmentzündung. „Mindestens einmal im Monat habe ich solche Bauchschmerzen, dass ich nur noch schreiend die Wände entlangkrieche.“ Nono Schonia gesteht, dass sie im Tagebuch ihres Sohnes gelesen hat. „Da schreibt er immer wieder von Selbstmord“, berichtet sie und zitiert: „Wenn meine Mutter nicht mehr am Leben sein wird, wozu soll dann ich noch leben?“ Nika tanzt und singt gern und schreibt sehr viel, von Beruf aber möchte er einmal Arzt werden. Angesichts der Armut der Familie hält seine Mutter dies für einen frommen Wunsch. Weshalb das Unglück über sie kam, ist ihr immer noch ein Rätsel: „Wir hatten zu unseren abchasischen Nachbarn ein herzliches Verhältnis.“

30 Prozent verpulvern ihr Geld auf den Boulevards der Hauptstadt. Dem Rest fehlt das Nötigste zum Leben

Jetzt lauert Nono Schonia darauf, aus welcher unvorhersehbaren Richtung neues Unglück droht. An dem Schulausflug wollte sie eigentlich nicht teilnehmen, weil ihr ein Traum bedeutet hatte, sie werde in dem Bus sterben. „Wie peinlich das für den Jungen gewesen wäre!“, schaudert es die Mutter.

Am nächsten Tag ziehen die Kinder eine Bilanz ihreres Ausflugs. Auch von dem Fach „Konfliktologie“ ist die Rede, in dem sie spielend lernen, Alltagssituationen zu bewältigen. Hereingeschwänzelt kommt Kwanza. Die knuffige Zehnjährige trägt ein glitzerndes T-Shirt mit Leopardenmuster und viele rote Spangen im Haar. Bei dem Ausflug haben ihr am besten mittelalterliche Goldstickereien und die Mumie im Staatlichen Museum gefallen. Später erklärt sie „Hier habe ich viel nettere Beziehungen zu den Lehrern und Mitschülern als in meiner anderen Schule. Im Konfliktologie-Unterricht haben wir gelernt, dass wir nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit miteinander streiten sollen.“ Hat Kwanza diese Erkenntnis schon privat anwenden können, zum Beispiel gegenüber dem Bruder? „Mit dem streite ich nicht“, antwortet sie verwundert: „Der ist erst fünf!“. In ihrer Zukunft sieht sich Kwanza als Balletttänzerin: „Ich werde nur feierliche Tänze tanzen.“

Nika gibt sich in dieser Runde optimistisch. „Ich wusste, meine Mutter hatte vor dem Ausflug einen Traum“, sagt er: „Aber ich hielt ihre Angst für eingebildet.“ Kann Nika sich vorstellen, einmal nach Abchasien zurückzukehren? „Warum denn nicht“, sagt er: „Die sind dort doch alle verschieden.“

„Es braucht eine Zeit, bis wir die Probleme der einzelnen Kinder erkannt haben“, sagt die Leiterin Asmat Parjiani in der Pause: „Ob wir die jungen Leute wirklich ändern können? Immerhin ist neulich ein Absolvent zu mir gekommen und meinte, er hänge nun nicht mehr so viel auf der Straße herum und würde viel lesen. Sechs Monate lang Freundlichkeit, gutes Essen, interessante Gespräche, Filme und Ausflüge hatten ihn auf die Welt neugierig gemacht. Wir haben so ein Sprichwort: ‚Die Küken zählt man erst im Herbst‘. Das trifft auf uns buchstäblich zu. Denn die Kinder verlassen uns Ende September nach sechs Monaten – das ist nun einmal die Bedingung der Stiftung. Trotzdem lassen wir den Kontakt zu unseren ‚Ehemaligen‘ nicht abbrechen.“

Und diese obsessive Beschäftigung mit Krankheiten? Leidet tatsächlich die Hälfte der georgischen Bevölkerung an schweren Krankheiten oder Psychosen? „Die Hälfte mag es im Sommer sein“, sagt Asmat Parjiani: „Aber im Winter, in der Kälte, wenn der Strom ausfällt, werden wir alle krank und halb wahnsinnig. Und die Tragödie des Bürgerkrieges setzt sich in unseren Köpfen immer noch fort. Was Nono Schonia betrifft, so hat sie sich gestern mit ihrer Teilnahme an unserem Ausflug fast überfordert. Und trotzdem war es gut, dass sie mitgekommen ist. Sie hat sich so gefreut, dass sie eine Busfahrt überleben kann.“