Die Angst vor dem Bürokratiemonster

Beim Zahnersatz wollte die CDU die Privatisierung von Krankenkassenleistungen erproben

VON ULRIKE WINKELMANN

Plötzlich ist er nur noch ein Kleinbaustein, der Zahnersatz. „Wir müssen das jetzt nicht als Kleinbaustein tun“, begründete CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer gestern die Idee, die Extraversicherung für den Zahnersatz doch zum Beispiel auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Das ist ausgesprochen bemerkenswert. Denn bislang schien von der Ausgliederung des Zahnersatzes mindestens das Seelenheil der CDU, namentlich Angela Merkels, abzuhängen.

Merkel gab der Reform, die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und Exgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) im vergangenen Sommer großkoalitionär ausgehandelt hatten, überhaupt nur um den Preis ihre Zustimmung, dass der Zahnersatz rausflog. Er sollte erstens extra versichert werden – optional auch bei einer Privatversicherung. Zweitens sollte dies zu einem Pauschalpreis geschehen und nicht mit einem Prozentanteil vom Einkommen.

Als das Team Schmidt/Seehofer dieses Ergebnis verkündete, brach bei Krankenkassenchefs sofort der Schweiß aus: „Das funktioniert doch nie“, war die einhellige Meinung. Unendlich der bürokratische Aufwand, absurd die Abstimmungsanforderungen für sämtliche mit Versicherungsfragen betrauten Akteure: Arbeitgeber, Rentenversicherer, Bundesagentur für Arbeit.

Das blieb auch der Ministerin nicht verborgen. Eine Weile zauderte sie, schließlich hatte der Kanzler gesagt: „Wenn man einen Kompromiss erzielt, muss man ihn auch in den Punkten einhalten, wo er einem nicht gefällt.“ Andererseits drängelte etwa der Chef des Gesundheitsausschusses des Bundestags, Klaus Kirschner (SPD), vom Konsens abzuweichen und einen neuen Vorschlag zu machen – über den man ja wieder Konsens erzielen könnte. Man müsste die CDU eben nur ein bisschen in die Ecke drängen.

Zum Beispiel so. Vor zehn Tagen schrieb Schmidt an die „geehrte Frau Vorsitzende, liebe Frau Merkel“: Die Zahnersatzpläne „führen unvermeidlich zu einem hoch komplizierten Verwaltungshandeln“, dessen Kosten sich auf bis zu „1,2 Milliarden Euro je Jahr“ summieren könnten. Man könne doch die Zahnersatzregelung noch einmal überdenken.

Schon möglich, dass die Zahlen ein bisschen hoch angesetzt waren. Kein Zweifel aber, dass die SPD die gesamte Wut des Versichertenvolks ab dem 1. Januar 2005 über jeden einzelnen Euro auf Angela Merkel lenken würde. Denn dass Ulla Schmidt den Zahnersatz nie ausgliedern wollte, das hat sich herumgesprochen. Weniger bekannt ist, dass Schmidt stattdessen etwa Unfälle schon einmal ausgliedern wollte, was auch nicht ohne Verwaltungsabrieb geht – aber von Unfällen redet ja auch seit einem Jahr niemand mehr.

Seitdem Schmidt diesen Ausfallschritt gemacht hat, ist Merkel in der Defensive. Seit Tagen sind nun wohl meinende und weniger wohl meinende Unionsmitglieder unterwegs, um sie möglichst weich fallen zu lassen, wenn sie denn einknickte. Niedersachsens Gesundheitsministerin Ursula von der Leyen erklärte, ihretwegen könne man den ganzen Zahnersatz lassen, wo er ist. Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach erklärte, Merkels Pläne, das gesamte Gesundheitswesen auf Kopfpauschalen umzustellen, seien durch ein Abrücken von der Zahnersatzpauschale keinesfalls in Zweifel gezogen.

Merkel wird inzwischen gemerkt haben, dass umgekehrt ein Schuh draus wird: Sollte sie auf der „kleinen Kopfpauschale“ für den Zahnersatz beharren, könnte ihre große Kopfpauschale erheblichen Renommeeschaden erleiden. Wenn den Versicherten gesagt wird, dass die Zahnersatzpauschale leider nur als „Bürokratiemonster“ leben kann – wie groß muss dieses Monster sein, wenn es das gesamte Gesundheitswesen frisst?

Auf diese Weise muss Merkel eine Niederlage in diesem Jahr hinnehmen, um eine größere Niederlage im kommenden Jahr abzuwenden. Denn dass der Zahnersatz „Modellcharakter“ für die Umgestaltung des Gesundheitssystems trägt, hat sie selbst immer wieder betont. Schon im Bundestag erklärte sie im Juni 2003: Mit einer Ausgliederung des Zahnersatzes solle „getestet werden“, wie die Privatisierung von Kassenleistungen funktioniere. „Wir müssen den Instrumentenkasten jetzt erproben.“

Da hat sie dann wohl das falsche Instrument erwischt. Wenn sie in dieser Woche der Regelung aus dem Hause Schmidt zustimmt, statt einer Extraversicherung einfach einer Verschiebung der Beitragslast zuzustimmen, hat Schmidt gewonnen.