Aufklärung im Hinterzimmer

Wie die Fraktionen im EU-Parlament verhindern wollen, dass ihre Leitfiguren öffentlich zu ihrer politischen Verantwortung stehen müssen

aus Straßburg DANIELA WEINGÄRTNER

Im Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments lagen am Montagabend die Nerven blank. „Ich mach mich doch nicht selbst zum Deppen“, polterte der Österreicher Herbert Bösch (SPÖ). Er werde nicht „mit der Taschenlampe in irgendeinem Hinterzimmer“ die internen Eurostat-Prüfberichte der Kommission studieren und dann hinter verschlossenen Türen Kommissionspräsident Romano Prodi dazu befragen.

Es geht um das Treffen zwischen Prodi, Parlamentspräsident Pat Cox, den Fraktionsvorsitzenden und den Mitgliedern des Haushaltskontrollausschusses morgen Nachmittag in Straßburg. Erst heute Abend ab halb zehn dürfen die Abgeordneten in einem streng abgeschirmten Leseraum studieren, was die interne Prüfung der Kommission in Sachen Eurostat ergeben hat. In einem Brief vom 22. September an den „lieben Pat“ äußert Prodi die Hoffnung, „dass wir, wie gewöhnlich, eine übereinstimmende Einschätzung der Situation als Ergebnis eines fruchtbaren Gedankenaustausches erreichen.“ Das klingt nach Gemauschel. Und ist es wohl auch.

Seit Wochen schieben sich die Chefs der Fraktionen, Parlamentspräsident Cox und Romano Prodi gegenseitig den schwarzen Peter zu. Pat Cox ließ über seinen Sprecher beteuern, er hätte nichts gegen eine öffentliche Sitzung. Romano Prodi ließ darauf verbreiten, es könnten ruhig alle hören, was er dem Parlament zu sagen habe.

Am Ende blieben nur drei Parteien übrig, die darauf beharren, dass die Konferenz der Präsidenten wie immer hinter verschlossenen Türen tagt: Enrique Baron, Fraktionschef der Sozialisten, Hans-Gerd Pöttering, sein Gegenspieler bei den Konservativen, und das Duo an der grünen Fraktionsspitze, Monica Frassoni und Daniel Cohn-Bendit. Da die Europawahl näher rückt, liegt den Politikern die Aufklärung von Missständen in der Kommission offenbar weniger am Herzen als die Frage, ob die eigenen Leitfiguren die Schlammschlacht unversehrt überstehen.

Es gehe ja wohl nicht an, so ein deutscher Abgeordneter, dass „nur die Sozen hingehängt werden“. Tatsächlich gehören Pedro Solbes und Neil Kinnock zum sozialistischen Lager, die Dritte im Bunde, Michaele Schreyer, ist eine Grüne. Die Konservativen im Haushaltskontrollausschuss reiben sich die Hände. Das stinkt den Linken schon lange. Letzte Woche kam ihnen endlich die rettende Idee: „Das Amt für amtliche Veröffentlichungen“ habe doch die Daten aus den Datashops weitergeleitet, deren Erlöse in schwarze Kassen geflossen sein sollen. Damit sei doch irgendwie auch dieses Amt in den Skandal verwickelt und die zuständige Kommissarin Viviane Reding politisch in der Verantwortung.

Viviane Reding – das wird jetzt niemanden überraschen – gehört einer konservativen Partei an. Sie stammt aus dem kleinen Luxemburg und ist für Kultur, Erziehung und Sport zuständig. Die bislang ziemlich unauffällige Politikerin muss nun im Wahlpoker als Unterpfand dafür herhalten, dass auch konservative Kommissare ihren Laden nicht im Griff haben. Diese Drohung der Sozialisten zeigt Wirkung. Auch die Konservativen sind plötzlich nicht mehr daran interessiert, dass die Presse die neueste Wendung des Eurostat-Skandals hautnah miterlebt.

Das alles könnte man unter dem Stichwort „endlich mal was zum Schmunzeln aus Straßburg“ abhaken, wenn es nicht um grundlegende Probleme ginge. Romano Prodi und sein für die Reform zuständiger Vize Neil Kinnock haben es in vier Jahren nicht geschafft, den Saustall in der EU-Bürokratie auszumisten. Seilschaften, gezielte Desinformation, Begünstigung, Betrugsverdacht – über allem thronen wie eh und je die unantastbaren Generaldirektoren, die Könige von Brüssel.

Wer dafür die politische Verantwortung übernimmt, ist derzeit völlig offen. „Ich will nichts unter den Teppich kehren, sondern plädiere für eine rationale parlamentarische Vorgehensweise“, beteuert Daniel Cohn-Bendit. Warum ihn die Öffentlichkeit bei Prodis Befragung stört, vermag er allerdings nicht schlüssig zu erklären. Der Liberalen-Chef Graham Watson redet als einziger Klartext: „Wenn die Prüfberichte, die Prodi morgen mitbringt, ernste und weitreichende Unkorrektheiten bei Eurostat bestätigen, sollte der zuständige Kommissar Pedro Solbes seinen Hut nehmen.“

Sollte es so weit kommen, sind auch Schreyer und Kinnock, zuständig für Betrugsbekämpfung und Kommissionsreform, in der Schusslinie. Die Sozialisten werden sich im Gegenzug nicht mit Viviane Reding begnügen. Sie haben noch ein Dossier in der Schublade, das Chris Patten und Poul Nielson mit Zuschüssen für eine zweifelhafte Beratungsfirma in Verbindung bringt. Diese Drohung wird die Konservativen zweifellos zum Schweigen bringen.