berliner szenen Vernunft im Chaos

Rot und Grün

Wir gingen eine Weile, erleichtert, weil wir mit jemandem reden konnten. Wie gestern, wie morgen. Das Redebedürfnis war ungewohnt groß. Das Thema war Liebe, genauer, dass man den, beziehungsweise die, den/die man liebt, nicht kriegt. Und deshalb vielleicht gerade umso mehr begehrt.

Ich trank dramatisch aus einer Dose Bier, Pia schob ihr Fahrrad, abgerissen sahen wir beide aus, auch wenn wir nicht so aussehen wollten. Schließlich kamen wir an die Straßenecke, an der sich unsere Wege trennten. „Weißt du“, sagte Pia, „es ist nur so, dass ich Thorben eben trotz allem nicht verachte. Wenn ich den sehe, dann …“ – „Kenne ich“, sagte ich schon ein wenig lallend, „kenne ich genau. Wenn ich irgendwo Claudia treffe, dann …“ Pia sah kurz zur Ampel hin, sie wechselte gerade von Rot auf Grün. „Ja, das Problem ist halt, ich weiß nicht, wie ich ihn ansprechen, ich meine …“ Ich nickte nur. Sie sah zur Ampel hin. Das gehende Männchen leuchtete grün. Dann das stehende rot. „Ich weiß auch nicht, plötzlich fehlen mir dann die Worte“, lallte ich. Pia sah mich an. Ihre trüben Augen schimmerten wässrig. „Na ja“, sagte sie. „Ja“, sagte ich. Autos hielten. Es wurde wieder grün. „Aber – ach, es hat ja auch keinen Sinn …“, Pia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ja, klar.“

Ich nahm noch einen Schluck, die Ampel wurde rot. Sie sagte etwas, ich sagte etwas. Die Ampel wurde grün. Wir sprachen schneller, die Ampel wurde rot, Pia nervös. Die nächste Grünphase gab ihr die Gelegenheit zu fliehen. „Tschüs“, rief sie und sprang schnell aufs Rad. „Tschüs“ rief auch ich. Dann sah ich noch eine Weile der Ampel zu. Sie brachte Vernunft in dieses Chaos. Eine einfache Struktur. Gehen, stehen. Jeweils eine genau abgemessene Zeit. JÖRG SUNDERMEIER