„Wenige Menschen wollen sich binden“

In Berlin, der „Welthauptstadt des Atheismus“, haben 60 Prozent der Bewohner keine Religion. Dennoch ist das religiöse Leben hier bunt, meint der Atheisten-Experte Andreas Fincke. Und ihre Verbände haben kaum Zulauf

taz: Herr Fincke, Berlin gilt als „gottlose“ Metropole, da etwa die Hälfte der Bevölkerung, rund 1,7 Millionen Menschen, gar keiner Religion angehört – die Stadt muss für die hiesigen Atheistenverbände doch ein Paradies sein. Oder?

Andreas Fincke: Die Verbände profitieren, was ihre Mitgliederzahl betrifft, davon nicht. Der wichtigste Verband dieser Szene, der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), hat in der Hauptstadt etwa 1.000 Mitglieder. Das ist erstaunlich wenig, schließlich sind hier allein vergangenes Jahr rund 1.700 evangelische Christen in die Kirche wieder eingetreten.

Warum können diese Verbände hier trotz des großen Potenzials nicht landen?

Schwer zu erklären. Wahrscheinlich hat es viel zu tun mit einer tiefen Reserviertheit vieler Menschen gegenüber weltanschaulichen Organisationen. Ähnliches beobachtet man ja bei den Gewerkschaften oder bei den Parteien. Wenige Menschen sind derzeit bereit, sich da zu binden.

Der Humanistische Verband hat 2003 aus der Senatskasse 582.000 Euro erhalten – bei Eigeneinnahmen von 54.000 Euro: Er bekam von der öffentlichen Hand zehn Mal mehr als der Verband selber einnahm. Ist das gerechtfertigt?

Die Kirchen waren irritiert über diese Zahlen, weil sie sagten, sie bekämen an institutioneller Förderung viel weniger Geld, während der HVD argumentierte, sie verträten den Großteil der Bevölkerung der Stadt, die keiner Kirche angehört. Das ist eben die Gretchenfrage: Vertritt ein Verband die Mitglieder, die er formal hat, oder vertritt er jenes Milieu, dem er sich geistig zugehörig fühlt? Aber es ist sicher plausibel, dass der HVD eine gewisse institutionelle Förderung erfährt in dieser Stadt, damit die Pluralität gewährleistet ist.

Die Kirchen bekamen – nach den aktuellsten verfügbaren Zahlen von 1999 – für jedes ihrer Mitglieder etwa 20 Mark von der Stadt, der HVD mehr als 3.000 Mark. Ungerecht, oder?

Das ist ungerecht. Die Gleichbehandlung der Weltanschauungen und Religionen müsste heißen, dass auch finanziell alle gleichbehandelt werden. Der HVD argumentiert dagegen, es gebe viele versteckte, indirekte Förderungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, etwa beim Denkmalschutz. Da beginnt ein endloser Streit, da beispielsweise der Denkmalschutz auch etwas mit der Zivilgesellschaft zu tun hat. In diesem Sinne ist ja der Dom oder die Gedächtniskirche kein Eigentum einer Religionsgemeinschaft mehr, sondern der Bürger der Stadt.

Ein Erkenntnis Ihrer Studie war, dass die Kirchen an den Scheitelpunkten des Lebens präsent sein müssen. Ist das nicht schon der Fall, etwa bei Taufe, Heirat und Beerdigung?

Grundsätzlich glaube ich, dass Konkurrenz das Geschäft belebt. Es geht nicht nur um diese Scheitelpunkte, sondern Seelsorge im Alltag – etwa einsame, arme Menschen, die arbeitslos sind und Angst vor Hartz IV haben. Das Dilemma ist: Weil die Kirchen selbst finanziell klamm sind, Pastoren immer größere Gemeinden haben, ist ein Besuchsdienst kaum mehr möglich. Oft sind Pfarrer bei mehreren zu betreuenden Kirchen mehr Bauingenieur als Seelsorger. Dabei müssen wir mehr als früher zu den Menschen gehen. Denn man muss zu ihnen hingehen. Sie kommen nicht.

Ist die Lage in Berlin also so: Gut die Hälfte der Leute sind nicht antireligiös, sondern religiös uninteressiert?

Das kann man so sagen. Vom US-Soziologen Peter L. Berger gibt es das Wort von Berlin als „Welthauptstadt des Atheismus“. Das ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da es Hinweise gibt, welche enorme Fülle an Religionsgemeinschaften es gleichzeitig hier gibt. Berlin ist da bunt. Die Frage der Zukunft wird sein, ob die Religions-Uninteressierten von den Kirchen erreicht werden, den Atheistenverbänden – oder von keinen von beiden.

Interview: PHILIPP GESSLER