Der Zorn der Teetrinker

Nach dem Verpassen der EM wurde der beliebte Ersun Yanal neuer Trainer der türkischen Fußballer. Misserfolge in der am Samstag beginnenden WM-Qualifikation wird man auch ihm kaum verzeihen

AUS ISTANBUL TOBIAS SCHÄCHTER

Mesut begegnet den neuesten Nachrichten aus der Welt des Sports bemerkenswert unaufgeregt. Über das Meer der Teetrinker in seiner Teestube in Istanbuls quirligem Viertel Beyoglu kann dies nicht behauptet werden. Ganz im Gegenteil: Der Gleichmut des schnurrbartlosen Teekochs ist die Ausnahme. Der Dopingfall der als Nationalheldin verehrten Läuferin Süreyya Ayhan und das enttäuschende Abschneiden der 5.000-Meter-Goldhoffnung Elvan Abeylegesse bei Olympia ließen in der Türkei vielerorts heftige Debatten über den Zustand der Sportnation aufkommen. Ein Kommentator der Zeitung Milliyet gelangte zu einem erstaunlich selbstkritischen Schluss. Die Wurzel allen Übels sei die türkische Mentalität, welche nur darauf warte, sich im Glanz gewordener Champions zu sonnen, anstatt Nachwuchs konsequent zu fördern.

Eine Bestandsaufnahme, die für den Nationalsport Nummer eins nur zum Teil gilt: Der Fußball nahm im letzten Jahrzehnt gerade durch gezielte Aufbauarbeit eine rasante Entwicklung. Aber ausgerechnet in dem Jahr, in dem die EU über Beitrittsverhandlungen mit dem reformwilligen Land entscheiden will, fehlte des Türken liebstes Kind auf der großen europäischen Bühne bei der EM in Portugal. Gescheitert an Fußballzwerg Lettland waren die noch vor zwei Jahren als Weltmeisterschafts-Dritte ekstatisch gefeierten Helden. Den großspurig auftretenden Trainer Senol Günes kostete dies den Job. Nachfolger Ersun Yanal blieb bisher den Beweis schuldig, dass das EM-Aus nur ein Ausrutscher der vermeintlich neuen Fußballgroßmacht war. Zwei Niederlagen musste der 42-Jährige erklären, vor zwei Wochen eine 1:2-Heimschlappe gegen Weißrussland. Danach ließ der Verfechter opulenten Offensivfußballs die gepiesackten Teetrinker vom Bosporus bis zum Schwarzen Meer wissen: „Panik Yok!“ – „Keine Panik!“. Beruhigen konnte dies die Gemüter nicht vor den am Wochenende beginnenden Qualifikationsspielen für die WM 2006. Einem Heimspiel in Trabzon gegen Georgien folgt nur vier Tage später in Piräus das Duell mit Otto Rehhagels stolzen Europameistern aus Griechenland. Außerdem könnten in der Gruppe 2 noch die Dänen, die heimstarken Albaner sowie die unberechenbaren Ukrainer und Kasachen zu Stolpersteinen werden.

Außerhalb der Türkei nur Fachleuten ein Begriff, machte Yanal sich einen Namen durch die Erfolge mit dem Klub Gençlerbirligi aus Ankara. Fast die Phalanx der Abonnementmeister aus Istanbul durchbrechend, reüssierten die Emporkömmlinge vor zwei Jahren auch im Uefa-Cup. Der eloquente Yanal, ein diplomierter Sportlehrer ohne nennenswerte Spielerkarriere, besitzt ein englisches und ein türkisches Trainerdiplom und setzt als Vertreter einer neuen, gebildeten Trainergeneration auf Kommunikation nach innen und nach außen. Die erhoffte Aufbruchstimmung indes konnte die Auswahl des neuen Hoffnungsträgers noch nicht entfachen.

In den Tests vermochten die Talente ihre Chance nicht zu nutzen, und die bereits etablierten jungen Stars Tuncai Sanli und Gökdeniz Karadeniz müssen mit gestiegenen Erwartungen erst einmal zurechtkommen. Kontinuität in der Spielerauswahl begleitet deshalb den Neustart. „Wir brauchen die Erfahrenen“, glaubt Yanal. Vielen aus der alten Riege, wie Torhüter Rüstü oder Spielmacher Emre, fehlen jedoch Spielpraxis und Form. Und noch immer führt der denkmalgeschützte Stürmer Hakan Sükür, „der Bulle vom Bosporus“, das Wort.

„Yanal ist der Beste“, lobt der neue Verbandspräsident Levent Bicakci den Aufsteiger mit Vierjahresvertrag. Nach dem Europameisterschaftstriumph der Griechen analysierte Yanal selbstbewusst: „Wir haben zugeschaut und wissen, wie man sie schlagen kann.“ Der Mann aus Izmir spuckt in unsicheren Zeiten also auch große Töne. Bisher war die Laufbahn des zweifachen Familienvaters vom Nachwuchscoach in Denizli zum ersten Trainer des Landes ein kerzengerader Weg nach oben, wohlwollend begleitet von der zu Hysterie neigenden Presse. Doch Vorschusslorbeeren können im türkischen Sport schnell verwelken.

Ersun Yanal weiß: Nichts müssen er und seine Spieler bei Misserfolg mehr fürchten als den Zorn der ungeduldigen Teetrinker. Zeitgenossen mit dem Gleichmut des Teekochs Mesut und sachliche Kommentatoren finden sich unter den Fußballverrückten des Landes im Zweifelsfall eher selten.