BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Knackige Zeugin der Zeitgeschichte

Das Notaufnahmelager Marienfelde wollte mich einst zu Helmut Kohl abschieben, jetzt will es meine Erinnerungen

Seit einigen Tagen komme ich mir sehr bedeutsam vor. Warum? Weil ich eine wichtige Person bin. Das Notaufnahmelager in Berlin Marienfelde sucht zur Erweiterung seiner Ausstellung Zeitzeugen. Ich durchlief nach dem Mauerfall mit tausenden mir unbekannten Brüdern und Schwestern das Aufnahmelager. Ich war dabei, also bin ich Teil der Zeitgeschichte. Wow! Vorher habe ich immer gedacht, dass solche Zeugen alt und kurzsichtig sein und sich an Krückstöcken festhalten müssten. Jetzt weiß ich, es gibt auch junge und knackige wie mich.

Gerne stelle ich dem Verein „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager“ meine historischen Erinnerungen zur Verfügung. Leider habe ich den Koffer nicht mehr, mit dem ich am 11. November 1989 vor der Tür einer Freundin in Westberlin stand, die quasi mein erstes Notaufnahmelager war. Wenn ich gewusst hätte, dass ich 15 Jahre später ein Zeitzeuge sein würde, hätte ich ihn natürlich aufgehoben. Ich könnte aber anbieten, eine Zeichnung anzufertigen. Ebenso von den mir bis dahin unbekannten Früchten, die ich zum ersten Frühstück zu verzehren lernte. Es waren Kiwis. Von Bananen wusste ich schon, dass man die ohne Schale isst.

Nachdem ich einige Tage Westluft geatmet hatte, fuhr ich am 14. November ganz entspannt zum Notaufnahmelager. Schließlich wollte ich offiziell in das Bundesgebiet beziehungsweise in das Land Berlin aufgenommen werden. Das Lager war eine traurige Angelegenheit. Bereitwillig ließen sich tausende von Menschen Wohnheimplätze irgendwo im Westen zuweisen, in Gegenden auf der deutsch-deutschen Landkarte, die ihnen nicht halb so geläufig waren wie irgendwelche russischen Erdölvorkommen aus dem Schulatlas. Sie wollten nur weg aus der DDR, wohin, schien egal. Ich aber wollte in Westberlin bleiben. Also schrieb ich in meinen Antrag zum Aufnahmeverfahren unter „gegenwärtige Anschrift“ die Adresse der Freundin, wo ich vorerst untergekommen war. Mit Genugtuung las ich in einem Merkblatt der Bundesaufnahmestelle, dass ich als Deutsche aus der DDR „in den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gleich stehe“. Selbstredend stelle ich das Merkblatt und meinen Aufnahmeschein mit der Nummer 928065 der Erinnerungsstätte Marienfelde zur Verfügung.

Die Frau, die damals meinen Antrag bearbeitete, fragte mich streng, ob ich vorher in Ostberlin gelebt oder dort Verwandte hätte. Wahrheitsgemäß antwortete ich mit Nein. Da strich sie mit kühnem Schwung meine Westberliner Adresse durch und ersetzte sie durch „Landesdurchgangswohnheim, Rheinstr. 45, 6522 Osthofen“ und wenige Zeilen tiefer unter „beabsichtigter Wohnsitz im Bundesgebiet“ schrieb sie Rheinland-Pfalz. Ich dachte, ich spinne. Ich wollte nicht nach Osthofen, ich wollte in Westberlin bleiben!

Die Frau ignorierte meine Einwände und sagte mir, dass das Berlinkontingent zur Aufnahme von Flüchtlingen ausgeschöpft sei und ich ohne vorherigen Wohnsitz in Ostberlin nicht bleiben dürfe. Eine nächste Bearbeiterin, die einen weiteren Aufnahmeschein ausfüllte, hämmerte mit der Maschine meine angeblich neue Adresse zackig aufs Papier. Mir wurde Himmelangst. Rheinland-Pfalz, da fiel mir außer Saumagen und Kohl nichts ein.

Nur wenige Tage nach meiner Quasi-Flucht aus der DDR trug ich mich mit wirklichen Fluchtgedanken. Als ich mich in eine lange Schlange stellen sollte, in der hunderte Menschen geduldig auf ihren Transport nach Osthofen warteten, überkam mich Panik. Die wollten mich ganz offiziell abschieben! Plötzlich kam mir die rettende Idee. Ohne mich umzudrehen, ging ich. Einfach so.

Nichts gegen Osthofen, das ich bis heute nicht kenne. Aber nicht auszudenken, was aus mir geworden wäre, wenn ich mich hätte verschicken lassen wie ein Ostpaket. Mir kommen fast die Tränen, typisch Zeitzeuge. Aber man hat nun mal nur ein Leben und da sollte man schon selbst bestimmen, wohin die Reise geht. Damals wie heute.

Fragen zur Abschiebung? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE