Eine Welt aus lauter Robinsons

In ihrer perfekten Naturnachahmung würde man Skulpturen des australischen Bildhauers Ron Mueck eher einer Anatomiesammlung zuordnen als dem Kunstmuseum. Der Hamburger Bahnhof stellt sie trotzdem aus, wegen ihres „seltsamen Zaubers“. Nutzt Mueck am Ende nur optimal Production Values?

Wie Schaupieler führen die Figuren Resignation oder Erschöpfung vor

von BRIGITTE WERNEBURG

Die fantastische Genauigkeit der nachdenklichen, ja oft verdrossenen Mienen, die Lebensechtheit ihrer durchaus mit Mängeln behafteten Körper, all das rettet Ron Muecks Figuren vor der Niedlichkeit. Denn Ron Mueck bringt seine Skulpturen erwachsener Menschen gerne auf das Format von großen Puppen – seltener auch auf das von Giganten. Diese Änderung des Maßstabs gilt als sein Markenzeichen. Sie ist die Strategie, mit der sie der australische Künstler unmissverständlich im Kunstraum zu verorten sucht. Wäre nicht dieser auffällige Maßstab, könnte man durchaus vermuten, seine Figuren mit ihren feucht glänzenden Augen, ihrer blaugeäderten Haut, die auch mal den Schauder einer Gänsehaut zeigt, gehörten in die Anatomie und die medizinische Sammlung.

Ursprünglich stammen sie, wie inzwischen viele neue künstlerische Ideen und Arbeiten, aus Film und Fernsehen. Ron Mueck, dessen Eltern schon Spielzeugmacher waren, wurde 1958 im australischen Melbourne geboren. Dort arbeitete er zunächst für das Kinderprogramm des Fernsehens, anschließend ging er nach London, wo er beim Film, etwa für „Labyrinth“ mit David Bowie, die Special Effects verantwortete. 1990 gründete er seine eigene Firma, mit der er bis 1996 Puppen für Werbekampagnen, etwa für Frischluftsprays, Toilettenpapier oder Erdnussbutter, herstellte. In dieser Zeit begann er mit Fieberglasharz zu arbeiten, dem Material, das seine plastische Arbeit bestimmt. International bekannt wurde er 1997 mit der Gruppenausstellung „Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection“, die im Herbst 1998 auch in Berlin Station machte.

Im Hamburger Bahnhof, wo Ron Mueck nun seine erste deutsche Einzelausstellung hat, wurde schon damals „Dead Dad“ (1996) bestaunt: ein nackter Mann mit totenblasser Haut, der auf einem flachen Sockel lag. Den Vater, den Mueck im Leben als einen griesgrämigen und schwierigen Menschen beschreibt, hatte er nun im Tod zu einem Leichnam in Kindergröße geschrumpft. „Big Baby“ aus dem gleichen Jahr war umgekehrt ein Koloss. Kompliziert in symbolischer oder in metaphorischer Hinsicht anspruchsvoll ist Muecks Methode, seinen Figuren ihr gehöriges Maß zu geben, also nicht.

Deutlich komplexer ist ihr Herstellungsprozess. Für die ersten Skizzen und Entwürfe arbeitet Mueck mit lebenden Modellen. Anschließend stellt er makellose Tonmodelle her, die in Fiberglas und Kunstharz gegossen werden. Um eine höhere Feinzeichnung der Mimik zu erreichen, werden die Gesichter noch einmal in Silikon gegossen. Die aufwändige Perfektionierung der Oberfläche erreicht Mueck mit einem langwierigen Feinschliff der Figuren, dann malt er ihnen ihre Haut auf, samt Poren, Pickeln und Falten, und versieht sie mit ihrer Körperbehaarung, die von Tieren stammt.

Auch die Kleider, den Schmuck oder die Krokodillederschuhe etwa bei seiner „Seated Woman“ (1999) fertigt der Künstler selbst. Auffallend umstandslos setzt sich dieser Arbeitsaufwand in schiere Wirkung um. Betrachtet man den mickrigen nackten Mann mit den verschränkten Armen, der da vorsichtig aus seinem wahrlich ausladenden Ruderboot lugt, kann man nicht anders, als diese atemberaubende Nachahmung der Natur zu bewundern. Was jenseits der maßlosen Perfektion, die etwa die neue Arbeit „Man in a Boat“ (2002) auszeichnet, den weiteren Sinn seiner Figuren angeht: Da wird man streiten dürfen.

In England stellte Muecks Firma Werbepuppen für Erdnussbutter her

Anders als seine Mitstreiter aus der Young British Art sucht Mueck nicht die Mythen und Mühen des Alltags. Ihn beschäftigen die so genannten existenziellen Themen Geburt, Tod, Alter, Kindheit, Einsamkeit. Die Welt nach Mueck besteht aus Robinsons: ein Mann, ein Baby, eine Schwangere, eine Sterbende, eine Gebärende. Biologische Individuen, nicht gesellschaftliche, stellt er aus; höchstens ihr Geschlecht, also wieder ihre Biologie, weist ihnen eine soziale Rolle zu. Nackt, schutzlos, ganz auf ihre Leiblichkeit zurückgeworfen, soll die schiere Körperlichkeit seiner Protagonisten schon ihre Geschichte sein; will die Gestik von Gefühlslagen und Befindlichkeit berichten. Man mag darin eine „tiefe Auseinandersetzung mit der conditio humana“ erkennen, wie im Pressetext verkündet wird. Oder über das „Geworfensein“ seiner Menschen spekulieren wie im Ausstellungskatalog.

Man kann aber in den Figuren auch Schaupieler entdecken, gerade weil der Ausdruck, den sie zeigen, so unmittelbar verständlich ist. Geradezu idealtypisch führen sie Resignation bei der alten Dame, Erschöpfung bei der Gebärenden oder Konzentration beim Mann in der Hocke, „Shaved Head“ (1998), vor. Die treffende Realistik von Muecks Figuren macht keineswegs vor ihrem Ausdruck Halt. Der Interpretationsrahmen ihrer Mimik und Gestik ist weit enger gesteckt, als es das Raunen des Ausstellungskurators Joachim Jäger von der „schwer zu deutenden, rätselhaften Magie“ der Skulpturen, ihrem „seltsamen Zauber“ glauben machen will.

Nun ist aber der makellose Hyperrealismus von Muecks bildhauerischem Werk durchaus ein künstlerischer Wert in sich selbst. Das merkt man spätestens dann, wenn man den ausgestellten Arbeiten mehr – und dazu nachgerade begeisterte – Aufmerksamkeit widmet, als man zunächst denken mochte. Doch dem Eindruck, hier seien die Production Values eben optimal umgesetzt worden, wie es im Filmgeschäft heißt, aus dem Ron Mueck stammt, entgeht man trotzdem nicht. Dem Sammler und Entdecker des Künstlers, Charles Saatchi, der als Werber ebenfalls in der Unterhaltungsindustrie zu Hause ist, mag genau das gefallen haben. Man hofft es jedenfalls. Sonst wäre ja auch er jener schwer zu deutenden, der rätselhaften Magie erlegen.

Bis 2. November, Katalog 20 Euro