Berlin, das Bonn für Arme

Der „lange Weg nach Westen“ ist mit dem Umzug nach Osten vollendetDie Blütenträume von der Mega-Metropole sind rasch zerstoben

VON RALPH BOLLMANN

An diesem Wochenende steigt die Bundesregierung noch einmal tief in die Vergangenheit zurück. Ausgerechnet im Bonner Palais Schaumburg, das schon dem ersten Regierungschef Konrad Adenauer als Kanzleramt diente, will sich das Kabinett an diesem Wochenende Mut machen für den Reformstreit – ganz so, als sehnten sich Kanzler Gerhard Schröder und seine Minister nach den ruhigen Zeiten der alten Bonner Republik zurück.

Heute vor fünf Jahren, am 1. September 1999, hatte die Regierung ihre Amtsgeschäfte in Berlin aufgenommen. Obwohl viele Ministerien noch immer offiziell in Bonn residieren (siehe Kasten), traf sich die Kabinettsriege seither kein einziges Mal mehr am Rhein. So begeistert zeigten sich selbst frühere Berlin-Skeptiker von der neuen Hauptstadt als vermeintlichem Labor der Zukunft, dass sie den Rhein nicht mehr vermissten.

Dabei hatten sich an den Umzug, den der Bundestag schon 1991 beschloss, einst schrille Befürchtungen und verwegene Hoffnungen geknüpft. Die einen warnten, Deutschland werde durch den Umzug preußischer, zentralistischer, weniger westlich. Berlin sei nun mal „keine Stadt des Westens“, schrieb der Publizist Klaus Harpprecht.

Die anderen versprachen, in der verarmten Metropole werde die Politik endlich die Sorgen der kleinen Leute erkennen und vor allem die Probleme des Ostens angehen. Mit einem geradezu lustvollen Drang nach Lustverweigerung zeichneten gerade Berlin-Befürworter wie der SPD-Abgeordnete Peter Conradi das Bild einer Stadt, die „grauer und härter und unbequemer“ sein werde als das idyllische Bonn.

Heute reiben sich die Beobachter verdutzt die Augen und stellen fest: Auf nahezu allen Gebieten trat das genaue Gegenteil dessen ein, was Befürworter wie Gegner vorausgesagt hatten. Die „Berliner Republik“ erscheint liberaler und weltoffener, als es ihr Bonner Vorbild jemals war. Wie in den Hauptstädten des Westens ihr Politikbetrieb aber auch abgehobener und volksferner.

Von Zentralismus hingegen keine Spur: So eng haben die Länder inzwischen die Fesseln um die Bundespolitik gezogen, dass sich die Regierung kaum noch bewegen kann. Und die innere Einheit schließlich, einst das wichtigste Argument für den Umzug, lässt weiter auf sich warten: Auf den Straßen des Ostens demonstrieren Zehntausende gegen das Hartz-Gesetz aus dem Westen, der sich seinerseits über so viel Undank erregt.

Erst mit dem großen Treck der Politiker und Beamten gen Osten vollendete das Land seinen „langen Weg nach Westen“, wie der Berliner Historiker Heinrich August Winkler kurz nach dem Regierungsumzug schrieb. In den fünf Jahren, die seither vergangen sind, ist Deutschland urbaner und liberaler geworden. Der Publizist Rudolf Augstein hatte schon den Umzugsbeschluss 1991 mit diesem Argument bejubelt: „Wir sind kein Staat mehr, der vom römischen Kardinal Ratzinger über die Rheinschiene des Kölner Kardinals Meisner irgendwelche Anweisungen für unsere praktische Politik entgegenzunehmen hätte.“

Zur Liberalisierung trug freilich entscheidend bei, dass die rot-grüne Koalition ein Jahr zuvor den ewigen Kanzler Helmut Kohl abgelöst hatte. Im provinziellen Bonn der Kohl-Ära wäre die Einführung der Homoehe so undenkbar gewesen wie das offizielle Eingeständnis, dass Deutschland längst ein Zuwanderungsland geworden ist – wie verstümmelt auch das einschlägige Gesetz am Ende ausfiel.

Auch geschichtspolitisch führte die monumentale Präsenz der jüngeren deutschen Geschichte keineswegs zu einem Rollback. Im Gegenteil: Gerade weil die jüngere Vergangenheit in Berlin so präsent ist, rückten lange verdrängte Fragen auf einmal in den Mittelpunkt der Debatte – etwa die Entschädigung für Zwangsarbeiter, die von der angeblich so geschichtsbewussten Bonner Republik jahrzehntelang verdrängt worden war.

Zur Gelassenheit trug es allerdings auch bei, dass die Blütenträume von der Mega-Metropole rasch zerstoben. Nach dem Berlin-Beschluss von 1991 sagte der Spiegel der neuen Hauptstadt ein „unkontrolliertes Wachstum“ voraus, mit „Dauerstau“ und rasant steigenden Mieten, und selbst 1999 schwärmte das Hamburger Magazin von Berlin als dem „Labor der Zukunft“ für die gesamte Republik: „Wo sonst Skepsis herrscht, ist hier Aufbruch, wo sonst Lähmung lastet, blüht der Spaß am Neuen.“

Nur ein Jahr nach diesen schwärmerischen Tönen begann der Niedergang der New Economy, die in Berlin so präsent war wie nirgends sonst. Ein weiteres Jahr später wurde die Krise durch die Folgen des 11. September noch verschärft. Vor allem aber waren es die Kosten der Vereinigung selbst, die den schwärmerischen Träumen von der Metropole schlichtweg die materielle Basis entzogen.

So vollzog sich in Berlin der langsame Abschied vom kalten Wohlstandschauvinismus der alten Bonner Republik. Jahrzehntelang hatten die Westdeutschen in der Gewissheit gelebt, in ökonomischen und finanziellen Fragen weltweit am erfolgreichsten zu sein. Die Bundesrepublik brachte es auf die meisten Exporte, sie hatte den höchsten Lebensstandard zumindest unter den großen Flächenstaaten, ihre Bewohner fuhren im Schnitt so oft und so weit in Urlaub wie niemand sonst.

Die Ostdeutschen glaubten nach 1990, auch sie hätten jetzt einen Rechtsanspruch auf diesen Status. So berichtete ein Zeitungsreporter damals von ehemaligen DDR-Bürgern, die im italienischen Seebad Rimini fassungslos vor den teuren Restaurants der Einheimischen standen: „Es kann doch nicht sein, dass der Italiener mehr Geld hat als der Deutsche.“

Inzwischen haben sich die Deutschen an diesen Gedanken gewöhnt, und erstaunlicherweise haben sie damit kaum ein Problem. Füllten sie früher die Flugzeuge gen Mittelmeer nahezu alleine, so sitzen sie heute neben Italienern oder Spaniern, die es auf einmal scharenweise in den Norden drängt. Fuhr man früher von Deutschland aus nach Rom oder Paris, um sich die Unwirtlichkeit und Provinzialität des eigenen Landes zu bestätigen, so gilt auf einmal die deutsche Hauptstadt selbst als schick.

Die Hoffnung allerdings, die Politik würde mit dem Regierungsumzug den Problemen des Alltags näher rücken, hat sich keineswegs erfüllt. Gerade in Berlin mit seinen extrem divergierenden Milieus war es schon immer besonders leicht, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen – und stets nur jene Leute zu treffen, die man ohnehin treffen will.

Durch das abgeschottete Regierungsviertel mit seinen pompösen Neubauten wurde dieser Effekt sogar noch verstärkt. In Bonn saßen Parlamentarier und selbst Regierungsmitglieder bisweilen in ganz gewöhnlichen Kneipen, in Berlin dagegen bleiben sie in den Polit-Kantinen von „Borchardt“ bis „Refugium“ weitgehend unter sich. Mit der Abgehobenheit des Berliner Raumschiffs erklärt sich auch die Überraschung, mit der die hauptstädtischen Reformpolitiker die Proteste gegen ihre Politik erwidern.

Zweimal schon ist das Kabinett ins beschauliche Neuhardenberg geflohen, um bei einer Klausurtagung den Geist der preußischen Reformer zu atmen. Diesmal fährt die rot-grüne Ministerriege nach Bonn. An Rhein und Ruhr finden Ende des Monats Kommunalwahlen statt, und Nordrhein-Westfalen ist noch immer das wichtigste Bundesland – ganz gleich, wo sich gerade die Hauptstadt befindet.