Wider den Silberlöckchenmythos

Pina Bausch hat mit Rentnern ihr Stück „Kontakthof“ neu einstudiert. Filmemacherin Lilo Mangelsdorff begleitete die „Damen und Herren ab 65“. Ihr gleichnamiger Dokumentarfilm startet jetzt im Abaton

Tangomusik. Jutta steht in der Mitte des großen Probenraumes, Männer umschwirren sie, zwicken ihr in den Po, streicheln ihre Schultern. Erst liebevoll, dann fordernd und schließlich brutal. Sie wehrt sich ohne Erfolg. Eine bekannte Szenen aus Pina Bauschs Tanzstück Kontakthof. Bei der Uraufführung 1978 gaben junge ProfitänzerInnen den elementaren menschlichen Beziehungen mit komplizierten Gesten und Bewegungsabläufen ihren Ausdruck. In der Neuauflage zeigen Laien den Frust und die Lust körperlichen Kontakts.

In ihre Bewegungsinterpretation der drei Hauptmomente Scham, Angst und Anmache paart sich Neugier aufeinander und auf das Spiel mit der Lebenserfahrung von mindestens sechs Jahrzehnten. Die Gruppe, die hier trainiert, drei Mal pro Woche, jeweils drei Stunden, und das seit vier Jahren, besteht aus „Damen und Herren ab 65“. Doch Heinz, Jutta und ihre 24 KollegInnen bedienen nicht das Klischee von Silberlöckchenwasserwelle und gebrochenem Gang im Mausgraulook. Sie laufen, sie hüpfen, sie biegen die Arme Bausch-mäßig vor und über den Rumpf. Sie streiten, sie lachen, ja, so gibt ein Herr zu, „die Küsserei ist jetzt auch bei uns ausgebrochen“, nämlich die unter TänzerInnen übliche Wangenkuss-Begrüßung.

Sie laufen als Team auf die Bühne bei ihren Aufführungen, im hart geprobten „Schlabberschritt“, und die Kamera gleitet mit. Ihr entgeht nichts, sie steht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sie wandert von ruhiger Hand geführt gegen den Bewegungsstrich, nimmt sich in den Interviews so zurück, dass die DarstellerInnen sich der Linse öffnen. Kamerafrau Sophie Maintigneux erhielt dafür kürzlich den Deutschen Kamerapreis. Zusammen mit Lilo von Mangelsdorff hat sie einen wunderbaren Dokumentarfilm geschaffen.

Die Regisseurin interessierte am meisten, „was das für Leute sind, die sich auf so was einlassen“. Deshalb hat sie sie nicht nur beim Proben und bei den Aufführungen beobachtet, sondern auch einzeln interviewt. „Am Anfang“, erzählt der schmächtige Mann im „Rodeo“-beschrifteten T-Shirt, „konnte ich mir gar nicht vorstellen, ins normale Gehen Gefühle ‘reinzubringen.“

Um Lifestyle oder Jugendwahn geht es weder den DarstellerInnen noch den kritischen TrainerInnen aus dem Kontakthof-Ensemble von 1978, und schon gar nicht den Filmemacherinnen. Gemeinsam mit den DarstellerInnen plädieren sie jedoch für das Prinzip Neugier, vor allem auf sich selbst in der ungewohnten Situation. Das macht Mut, und weist den Mythos vom Alter, das nur krank machtund damit teuer ist, in seine Schranken. Ein wichtiger Film also – für Cineasten und für Tanzbegeisterte. Katrin Jäger

heute–So, 28.9., 17.45 Uhr, 29. + 30.9., 18.30 Uhr, 1.10., 18 Uhr, 27.9., 4.10. + 11.10., 13 Uhr; Matineen: 28.9., 5. + 12.10., 11 Uhr, Abaton