Revolution war gestern

Instabil und volkstümlich: Nach dem Ende der Sowjetunion hat Russlands Klang sich verändert – auch in der Kunstmusik wird die Identität neu buchstabiert. Neben den bekannten Meistern stellen die Festwochen Werke der russischen Nachhut vor

von BJÖRN GOTTSTEIN

Das Thema Russland hat es den Festwochen angetan. Nach 1986 und 1995 steht die russische Musik nun schon zum dritten Mal im Mittelpunkt der Berliner Festwochen. Man hat da offenbar eine profilträchtige Nische entdeckt, die nicht nur Repräsentanz und „große Kunst“ bereit hält, sondern die es auch erlaubt, sich mit politischer Umsichtigkeit zu schmücken.

Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie stark sich das Russland-Bild in den vergangenen zwanzig Jahren verändert hat. In den Achtzigerjahren hatte man zunächst erkannt, dass unter den restriktiven Vorgaben sowjetästhetischer Dogmen eine Moderne eigenen Rechts entstanden war und dass staatstragende Künstler wie Dmitri Schostakowitsch sich nicht einfach zum musikalischen Restaurateur degradieren ließen.

In den Neunzigerjahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, konzentrierte man sich auf jene Aspekte der deutsch-russischen Geschichte, die sich nicht vor der Folie der Totalitarismen schreiben lassen. Der revolutionäre Gestus der Zwanzigerjahre, der etwa den russischen Futurismus auszeichnet, wurde als wichtiger Impuls der europäischen Avantgarde erkannt.

Jetzt hat sich die Perspektive abermals verschoben. An Russland und russischer Kunst interessieren nunmehr die jungen und instabilen Identitäten, die sich seit der politischen Wende von 1991 herausgebildet haben: Regionalismen und Folklore, Traditionalismen und die stilistische Öffnung gen Westen.

Wie so oft ist es die Kammermusik, die die diskursiven Stränge der Musikgeschichte bloßlegt. Sieben Konzerte mit kleinen Ensembles aus Russland und Westeuropa zieren das sonst eher großspurige Programm der Festwochen und geben Anlass zu verhaltener Euphorie. Denn bei den Konzerten, in denen tatsächlich eine recht breite Palette zeitgenössischer russischer Musik vorgestellt wird, stehen nicht nur etablierte Namen wie Schostakowitsch und Galina Ustwolskaya, Sergej Prokofjew und Sofia Gubaidulina auf dem Programm, sondern ebenso viele Komponisten der nachfolgenden Generationen, die dem postsowjetischen Russland in diesen Jahren einen neuen Klang verleihen.

Schon am vergangenen Montag hat das niederländische Schönberg einen weiten Bogen über die russische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gespannt: mit den süffigen Partituren von Alexander Skrjabin, der schroffen Askese von Galina Ustwolskaya und der süßlich verspielten Postmoderne des jüngeren Alexander Raskatow.

Kommende Woche folgt nun das Moskauer Studio für neue Musik, Russlands wohl spieltüchtigstes Ensemble für zeitgenössische Musik, das russische Werke der Gegenwart vorstellt. Eine radikale Verweigerungsästhetik ist hier allerdings nicht zu erwarten. Russische Komponisten befinden sich heute in einer Phase der Neuorientierung, die eine gewisse Ratlosigkeit nicht verschleiern kann. Einige Komponisten greifen erfolgreiche Techniken der westlichen Kunstmusik auf und reanimieren überlebte Stile wie den Minimalismus. Andere besinnen sich auf die russische Tradition und schmücken sich mit dem Verweis auf Mussorgsky oder Glinka.

Und natürlich wird auch die russische Folklore, die unter dem zentralistisch geführten Sowjetstaat einen schweren Stand hatte, wiederentdeckt. Ein Beispiel für dieses Projekt ist das Pokrowski Ensemble, das traditionelle Gesänge mit Werken von Igor Strawinsky und jüngeren Avantgardisten wie Sergej Berinski kombiniert. In den Konzerten des Ensembles wird nicht nur deutlich, wie spröde und rau volkstümliche Musik mitunter ausfällt, sondern auch, wo die Vorbilder der russischen Avantgarde mit ihren schroffen Klangprojektilen oft liegen.

Neben der Kammermusik steht natürlich auch tonnenschwere Kunst auf dem Programm der Festwochen. Ende Oktober ist das Petersburger Mariinski Theater zu Gast, das zu den großen Renommeebühnen des Landes zählt. Neben Peter Tschaikowskis romantischer Oper „Eugen Onegin“ und Prokofjews musikalischer Parabel „Der feurige Engel“ steht dann auch Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ auf dem Programm, ein Werk, das nach seiner Uraufführung 1936 in der Sowjetunion verboten wurde und das eine der übelsten Verleumdungskampagnen der Musikgeschichte nach sich zog. Dass dieses wilde, von Grotesken durchzogene Stück seinen Weg in das Programm des Mariinski Theater gefunden hat, macht deutlich, dass auch der etablierte Betrieb an den Facetten der russischen Musikgeschichte interessiert ist. Und wenn die Berliner Festwochen dazu etwas beitragen können: umso besser.