Eine Kerze für Borussia

Dortmund gewinnt bei Austria Wien mit 2:1, muss dies aber mit der neuerlichen Verletzung von Otto Addo teuer bezahlen. Über Fußball will danach keiner mehr reden

DORTMUND taz ■ Es war schon spät geworden am Mittwochabend in Wien, als die Stimmung im Lager von Borussia Dortmund auf einen neuen Tiefpunkt sank. Das mutete zunächst etwas überraschend an, denn zum einen musste man davon ausgehen, dass jener bereits am letzten Samstag mit der Sitzblockade der Anhänger erreicht worden war, als Trainer Matthias Sammer sich von mitleidigen Fans anhören musste, er sei „eine arme Sau“ – und die Spieler vorgehalten bekamen, zu viel und zu oft in einer Essener Diskothek beim Feiern gesichtet worden zu sein. Zum anderen hatte der BVB gerade nach ansprechender Leistung mit 2:1 gegen die einheimische Austria gewonnen und damit die Hoffnungen auf eine Trendwende geweckt. Aber als Lars Ricken, der in der 67. Minute das Siegtor seines Klubs erzielt hatte, vor die Journalisten trat, gab er keinen der zu erwartenden Satzbausteine von sich. Erzählte niemandem, dass man Charakter bewiesen oder es den Kritikern gezeigt habe. Stattdessen berichtete er von bedrückenden Szenen in der Kabine, weil sich Dede und vor allem Otto Addo neue Knieverletzungen zugezogen hatten. „Ich gehe morgen in die Kirche“, sagte Ricken fast tonlos, „und zünde eine Kerze an.“

Vor genau elf Tagen war in der taz zu lesen, dass sich das Mitleid mit dem BVB in Grenzen halten sollte, weil die meisten Probleme des Klubs hausgemacht seien. Doch die Ereignisse der letzten Tage haben in Dortmund zwar nicht die Faktenlage, aber doch die Gefühlswelt dahingehend verändert, dass Ricken nicht der Einzige sein wird, der demnächst ein Gotteshaus aufsucht. Es scheint fast, als finde sich der Verein als Hauptfigur einer biblischen Parabel wieder, in der er für ein bestimmtes Vergehen mit einer Abfolge von Plagen bestraft wird. Zu denen gehören Lähmungserscheinungen bei Auswärtsauftritten wie in Stuttgart oder Köln, die beschriebene Konfrontation mit der doch so treuen Gefolgschaft, eine Art öffentliche Steinigung wegen umstrittener Steuertricks oder die zersetzende Wirkung des Mammons in Form des Streits um den erzwungenen Lohnverzicht der Spieler. Vor allem aber die Abfolge körperlicher Leiden, gemeinhin „Verletzungspech“ genannt.

Vielleicht muss man diese Anflüge religiöser Symbolik verzeihen, aber spätestens die 38. Minute der Partie in Wien ließ den Betrachter daran zweifeln, dass die derzeitige Lage des BVB noch mit normalen Maßstäben zu beurteilen ist. Da wartete ein angeschlagener Otto Addo nämlich schon geraume Zeit auf seine Auswechslung, erhielt plötzlich im Strafraum des Gegners den Ball, schlug einen Haken und versenkte das Leder kaltschnäuzig im Netz. Für seine Mitspieler und die begeisterten Fans bedeutete das den wichtigen Führungstreffer – für Addo lediglich die ersehnte Spielunterbrechung: Glückwünsche abwehrend, humpelte er vom Platz, schlug sich wie zum Schutz das Trikot über den Kopf und verschwand in den Katakomben.

Am Ende bestand der traurige Verdacht, Addo habe sich zum dritten Mal in knapp zwei Jahren das Kreuzband gerissen, was für den 28-Jährigen das Ende der Karriere bedeuten würde. Sein Trainer Matthias Sammer, der ein ähnliches Schicksal erlitten hat, meinte deswegen nach dem Spiel, er habe „keine Lust, über Fußball zu reden“, erwähnte aber noch, dass er fast froh war, als Anfang der Woche bei Jan Koller eine Lungenentzündung diagnostiziert wurde, weil die Ärzte „wegen der Blutwerte etwas Schlimmeres befürchtet hatten“. Ein Dortmunder Journalist, der kurz zuvor noch einem Freiburger Kollegen gegenüber sarkastisch bemerkt hatte, man wäre nur noch eine Verletzung davon entfernt, dass Freiburg am Samstag als Favorit ins Westfalenstadion käme, biss sich auf die Lippen und zerknüllte den Zettel mit allen kritischen Fragen.

Die hätte es, wenn man sich auf das rein Sportliche konzentrieren könnte, auch nach dem Sieg in Wien durchaus gegeben. Der Notelf des BVB, in der bloß drei Stammspieler standen, reichten nämlich schon zwei Dinge, um die Gastgeber verdient zu schlagen (deren Ausgleich nur durch einen Freistoß aus 30 Metern Entfernung zustande kam): hohe Laufbereitschaft und mutiges Spiel nach vorne. Warum das in den Monaten zuvor fehlte, erklärt man in Dortmund vor allem mit einem Übel, das schon in der Bibel immer Plagen nach sich zog: Hochmut. Der sollte aber spätestens seit Mittwoch verflogen sein – wie auch eine gewisse Häme der eher neutralen Beobachter –, was dem BVB um einen hohen Preis die Chance eröffnet, die jetzige Krise zur Besinnung zu nutzen. Etwa zur Beantwortung der Frage, ob es wirklich allein die Spieler waren, die sich versündigt haben. ULRICH HESSE-LICHTENBERGER