berliner szenen Probefrühling

Verräterische Stille

Letzte Woche hat der Frühling geprobt. Die ganze Welt war auf den Beinen. Fahrradfahrer mit offenen Jacken sahen aus wie Fledermäuse auf Rädern. Glückliche Raucher saßen auf Holzbänken vor den Cafés. Menschen, die man monatelang nicht gesehen hatte, kamen plötzlich aus ihren Löchern. Und auf allen Gesichtern ruhte ein seliges Lächeln. Es war wie Freibier für alle.

Und dann saß da dieses Pärchen auf der kleinen Mauer am S-Bahnhof Pankow, da, wo am Wochenende die Besoffenen hinpinkeln. Der Junge und das Mädchen saßen so nebeneinander, dass zwischen ihnen ein Platz frei war. Auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinsah, dann konnte es einem so vorkommen, als ob die paar Zentimeter Mauer in Wirklichkeit ein unüberwindbarer Graben waren, der sich zwischen den beiden aufgetan hatte. Sie hatte Tränen in den Augen. Er zog verbissen an seiner Zigarette, der Filter war schon ganz plattgedrückt. Die beiden wirkten erschöpft. Sie hatten sich gegenseitig halb den Rücken zugedreht. Hätte man ihre Blicke rückwärts verlängert, hätten sich die Geraden im Gebüsch hinter ihnen getroffen. Doch selbst wenn dies möglich wäre, wäre es hier nicht mehr möglich gewesen. Denn die beiden sollten sich nicht mehr treffen, auch nicht mit Blicken. Sie hatten sich schon totgeschossen. Dies war die Stille nach dem Schluss, jenes fassungslose Schweigen, nachdem alles gesagt ist, die Angstlähmung aus dem Wissen: „Wenn du dich jetzt bewegst, dann ist es real!“, dieser letzte gemeinsame Moment vor der furchtbaren Freiheit war es, der sich hier abspielte.

Wenn der Frühling wirklich kommt, dann müssen wir uns darauf gefasst machen, dass dann alles wieder öffentlich stattfindet, auch die Tragödien.

LEA STREISAND