Schüler in der Gewalt von Geiselnehmern

Tschetschenien-Krise weitet sich aus: Bewaffnete Kämpfer erstürmen eine Schule in der russischen Teilrepublik Nordossetien und bringen mindestens 200 Menschen in ihre Gewalt. Täter fordern Freilassung von tschetschenischen Gefangenen

MOSKAU/BERLIN afp/dpa/taz ■ Der Terror in der Russischen Föderation geht weiter: Nachdem am Dienstagabend bei einer Bombenexplosion in Moskau 11 Menschen getötet und über 50 verletzt worden waren, haben gestern schwer bewaffnete Kämpfer in der russischen Kaukasusrepublik Nordossetien eine Schule überfallen und mehr als 200 Menschen in Ihre Gewalt gebracht, überwiegend Kinder.

Schüler, Lehrer und Eltern der Schule Nummer 1 in der Stadt Beslan, etwa 20 Kilometer nördlich der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas, hatten am Morgen gerade eine Feier zum Schulbeginn beendet, als die 17 Geiselnehmer das Gebäude stürmten. Dabei seien neun Menschen getötet worden, zitierte die Nachrichtenagentur ITAR-TASS die örtlichen Behörden. Elf Menschen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

In den Berichten russischer Medien schwankte die Zahl der Geiseln zwischen 120 und 400. Rund 50 Kinder hätten laut ITAR-TASS flüchten können. Später ließen die Geiselnehmer weitere 15 Kinder frei. Am Nachmittag drohten sie, jeden getöteten Mitkämpfer mit der Ermordung von 50 Kindern zu rächen. Jeder Verletzte solle mit der Tötung von 20 Kindern vergolten werden.

In der Turnhalle der Schule herrschten Angst und Verzweiflung. Die Terroristen forderten von einigen Kindern, sich in die Fenster zu stellen – als lebende Schutzschilde. Die Terroristen zwangen alle anderen, sich auf den Hallenboden zu legen, wie es in einem Bericht des Einsatzstabes heißt. Zwischen den Geiseln lägen so genannte schwarze Witwen, in Schwarz gekleidete Terroristinnen, mit Sprengstoffgürteln am Körper.

Für den Fall der Erstürmung der Schule durch russische Spezialkräfte drohten die Geiselnehmer die Sprengung des Gebäudes an. „Die ganze Schule wurde vermint“, sagte der Duma-Abgeordnete Michail Markelow. Sondereinheiten des Moskauer Innenministeriums bezogen rings um die Schule Stellung.

Laut Medienberichten forderten die Geiselnehmer die Freilassung von in Inguschetien inhaftierten „Terroristen“. Am Abend nahmen die russischen Behörden laut eigenen Angaben Kontakt zu den Geiselnehmern auf. FSB-Regionalchef sagte, die Verhandlungen stünden noch ganz am Anfang.

Russlands Präsident Wladimir Putin berief in Moskau eine Dringlichkeitssitzung mit Innenminister Raschid Nurgalijew und dem Chef des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, ein.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) hat laut Diplomaten auf Antrag des russischen UN-Botschafters Andrei Denisow noch für den Abend eine Dringlichkeitssitzung einberufen. Voraussichtlich werde zum Abschluss des Treffens eine Erklärung vorgelegt, in der die Anschläge verurteilt werden.

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Roth, verurteilte die Geiselnahme. Roth sprach gestern von einem unerträglichen Verbrechen. „Was passiert, ist zutiefst zu verabscheuen“, fügte sie hinzu. Bezüglich der Präsidentenwahlen in Tschetschenien vom vergangenen Wochenende widersprach die Politikerin der Ansicht von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), dass die Abstimmung regulär verlaufen sei. „Es war keine demokratische Wahl“, sagte Roth. Der Wahlsieger, der von Moskau favorisierte Kandidat Alu Alchanow, habe bereits vorher festgestanden.

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